250 Franken für ein Gefühl
Der Schweizer Autor Tim Krohn hat ein neues Geschäftsmodell entwickelt: Er lässt seine Leser via Crowdfunding Geschichten kaufen, in denen eine «menschliche Regung» im Zentrum steht.

Interessanter als ein Buch ist manchmal seine Entstehung. Hier ist so ein Fall. Der Schweizer Autor Tim Krohn, bekannt geworden durch seine Romane «Quatemberkinder» und «Vrenelis Gärtli», die Berglersagen ins Heute holen und aus Hochdeutsch und Glarner Mundart ein eigenes Idiom formen, lebt seit einiger Zeit mit Frau und Kindern in Santa Maria im Val Müstair, in einem alten Bauernhaus. Nun sollte auch noch die betagte Mutter aufgenommen und für sie ein ebenerdiges Bad eingerichtet werden. Ja, so privat muss es werden, denn die Finanzierung dieses Bades ist der Ausgangspunkt eines Romanunternehmens, das auf Jahre konzipiert ist und am Ende 15 Bände umfassen soll.
Um die Kosten der Sanitärinstallation tragen zu können, griff Krohn eine Idee auf, die seit einiger Zeit Furore macht, etwa in der performativen Kunst: Crowdfunding. Dabei finanzieren kunstsinnige Bürger zum Beispiel eine Theateraufführung, einen Dokumentarfilm oder eine CD-Aufnahme vor und freuen sich, wenn sie zustande kommt. Für die Literatur bedeutet das Verfahren Neuland. Auf der Plattform Wemakeit.com lancierte er 2014 sein Projekt: ein Roman aus vielen Geschichten über «menschliche Regungen». Jedes Kapitel wäre einer solchen zugeordnet, von «Aalglätte» über «Mitgefühl» und «Sinnlichkeit» bis «Zynismus».
Rund 1000 solcher Regungen – begrifflich ist die Sache nicht ganz scharf gefasst, wenn «Glück» oder «Gnade» auch dazu zählen – hatte Krohn gesammelt und bot nun 111 zum Kauf an. Sprich: Interessenten konnten gegen 250 Franken einen Begriff aussuchen, dazu drei Wörter eigener Wahl eingeben und bekamen dafür von Krohn eine entsprechende Geschichte. Für 500 Franken gabs das Ganze «express», für 750 zusätzlich eine Übernachtung in Krohns Haus und für 5000 Franken einen einwöchigen Schreibworkshop plus Privatlesung vor Freunden.
Modell mit grossen Vorgängern
40'000 Franken sollte die Aktion einwerben; nach nur einem Monat war die Sammelbüchse bereits übervoll, und auch bei einer zweiten Auflage meldeten sich genügend zahlungswillige und auf ihre «persönliche Geschichte» erpichte Leser. Krohn konnte das Bad einbauen lassen und musste nun die Gegenleistung dieser neuen Form von Auftragskunst erbringen, also nicht nur die Leser literarisch bezahlen, sondern aus den in beliebiger Reihenfolge eintrudelnden Begriffen ein Ganzes formen: einen Roman. Der Roman wurde schnell so umfangreich, dass der Verlag ihn als Dreiteiler herausbringt, Band eins ist gerade erschienen, die nächsten beiden folgen. Damit nicht genug, der Handel «Geld gegen Geschichten» geht weiter, Krohn plant 15 Bände, «zweifellos mein Hauptwerk», wie er ankündigt.
Was als Geschäftsmodell glänzend reüssiert hat, muss literarisch nicht gleichermassen glücken. Zumal Krohn da grosse Vorgänger über die schmalen Schultern schauen: Seine Lösung, das Begriffssammelsurium auch formal schlüssig zu machen, knüpft an zwei Modelle an. Einerseits an die enzyklopädischen Romane des Barockzeitalters, zum anderen an die Formel «Die Welt in einem Mietshaus», wie es etwa Georges Perec in «La vie mode d'emploi» oder Alaa al-Aswani im «Jakubijan-Bau» vorgemacht haben – beides Weltliteratur.
Tim Krohns Mietshaus steht in Zürich in der Röntgenstrasse (dort hat der Autor tatsächlich einmal selbst gewohnt). Es gibt sieben Mietparteien plus eine Gästewohnung, falls das Personal eine Auffrischung braucht. Das Spektrum reicht vom 80-jährigen Ehepaar Wyss über den pensionierten Trämler Brechbühl, das Migrantenpaar Costa, die Schauspielerin Selina, die alleinerziehende Kinderbuchlektorin Julia samt vierjähriger Tochter, den Studenten Moritz bis zum jungen Pärchen Pit und Petzi. Genug Variablen also, um das pralle Menschenleben einzufangen.
Die Sorgen und Nöte dieses Menschenlebens sind: Altersgebrechen, Nutzlosigkeitsgefühle, prekärer Berufsalltag, drohender Jobverlust, Arbeitsunfähigkeit, Doppelbelastung, Geldmangel, Liebeskummer, Beziehungsprobleme, Selbstfindung. Dazu kommen die Spezialprobleme der Hausgemeinschaft: Gerümpel im Treppenhaus, nächtlicher Lärm und – eine Schweizer Konfliktspezialität, die schon Hugo Loetscher literaturfähig gemacht hat: die gemeinsame Waschmaschine. In einer Szene kommt es dort zum Streit zwischen Efgenia und dem blutjungen Pit, der von einer Ohrfeige eskaliert zu spontanem Sex.
Pits Freundin will erst mal – vor einem Aidstest jedenfalls! – nichts mehr von ihm wissen; ohnehin hat sie ein Kuss des attraktiven Moritz durcheinandergebracht, sodass sie fürs Erste zu ihren Eltern zieht. Moritz ist eigentlich der Liebhaber Julias; das Migrantenpaar hat nur deshalb keinen Sex, weil Efgenia wegen ihrer Rückenschmerzen mit Tabletten sediert ist. Ja selbst unter Gerda und Erich Wyss, den 80-Jährigen, kommt der Gedanke auf, ob man sich nicht mal wieder nackt ins Bett legen sollte.
Zu viel Nettigkeit schadet
Es sind also recht eindeutige menschliche Regungen, zu denen es den Autor zieht. Krohns Immobilie ist, um in seiner Begrifflichkeit zu bleiben, ein rechtes Vögel-Haus. Der Autor befindet sich, wenn er nicht gerade die Lenden- oder Beckenperspektive einnimmt, auf Augenhöhe mit seinen Personen. Will heissen, er überfordert sein Lesepublikum nicht mit allzu komplexen Gedanken, zwischen den Zeilen zu Lesendem, Ambivalentem, Abgründigem. Auch nicht mit Verschwiegenem. Denn nicht nur kann der Autor hinter die Hausfassade in jedes Zimmer hineinschauen; die Figuren sind auch einander ein offenes Buch. Alles wird laut gedacht, alles wird ausgesprochen. Und alles in einem gleichermassen treuherzigen Ton.
Ein Mietshaus kann die Hölle sein; dieses hier ist ein Hort der Mitmenschlichkeit, in der sich alle genannten Konflikte und Probleme wundersam auflösen. Selbst die Bosheit Efgenias, die über den gestürzten Erich Wyss kaltschnäuzig bemerkt: «Ich habe nichts dagegen, dass er stirbt», verfliegt; nach einer Bandscheibenoperation wird sie ein produktives Mitglied der Hausgemeinschaft. Gut für diese, schade für die Lektüre. Allzu viel Nettigkeit tut der Literatur nicht gut.
«Der Jakubijan-Bau» bildete die ägyptische Gesellschaft ab, Perecs Roman hatte ein thematisches Zentrum und ein strenges formales Gerüst. Bei Tim Krohn stand wohl das Bemühen, seine Financiers mit hübschen Geschichten zu entlohnen, allzu sehr im Vordergrund. Wie soll das weitergehen, noch zwei oder noch dreizehn Bände? Immerhin taucht gegen Ende des Debütbandes noch ein richtiger Taugenichts auf, der vorbestrafte Enkel der Wyss, mit der Vorstellung, in der Schweiz warte «das Geld nur darauf, dass man es abholt». Er wickelt seinen Grossvater in ein gross angelegtes Betrugsprojekt ein. Vielleicht sollte er es besser mit Crowdfunding versuchen.
Tim Krohn: Herr Brechbühl sucht eine Katze. Roman. Galiani, Berlin 2017. 472 S., ca. 30 Fr.
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