29-Jährige hält Belgien in Atem
Lize Spit ist in ihrer Heimat über Nacht zum Literaturstar geworden. Mit einem abgründigen Thriller.

Eine Frau bekommt einen Brief. Es ist eine Einladung – und eine Botschaft aus der Vergangenheit. Im Dorf, in dem die Frau, sie heisst Eva, aufgewachsen ist, soll eine Gedenkfeier für ihren toten Jugendfreund Jan stattfinden; er wäre 30 Jahre alt geworden. Eva packt einen riesigen Eisblock in den Kofferraum ihres Autos und macht sich auf den Weg, von Brüssel in die Provinz. Frisch, fast naiv mutet der Erzählton an; doch von Anfang an ist klar, dass die Icherzählerin ein dunkles Geheimnis hat. Im Sommer vor dreizehn Jahren muss etwas Schreckliches geschehen sein. Als Leserin packt einen das Kribbeln: Was will Eva mit dem Eisklotz im Kofferraum? Was ist in jenem Sommer passiert? Und was hat das mit Jans Tod zu tun?
Es wird viele Hundert Seiten dauern, bis man die Antworten erfährt. Lize Spit spannt einen auf die Folter wie ein alter Profi. Langsam fährt das Auto, langsam schmilzt das Eis. Kilometer für Kilometer, Tropfen für Tropfen dringt Lize Spit tiefer in Evas Erinnerungen ein. Fast wie in Zeitlupe lässt sie ebenso anheimelnde wie verstörende Bilder vor den Leseraugen aufsteigen: Zusammen mit zwei Jungs war Eva einer der drei Musketiere – alle für einen, einer für alle. Man ahnt von Anfang an, dass das übel enden wird, und doch geniesst man die Nostalgie – bis die Dinge eskalieren. Selten liest man eine so gnadenlos präzise Analyse der Dynamik von sexueller Gewalt wie in diesem Roman.
Lize Spit, 1988 in einem kleinen belgischen Dorf geboren, eroberte mit ihrem Romanerstling «Und es schmilzt» die Bestsellerlisten in Belgien und den Niederlanden. Jetzt hat die Begeisterung für den abgründigen, literarisch anspruchsvollen Thriller dank der Übersetzung von Helga van Beuningen auch den deutschsprachigen Raum erreicht.
«Es schien wichtig, alle Einzelheiten zu registrieren, um sie hinterher vergessen zu können und so, Stück für Stück, die Erinnerung auszulöschen», sagt Eva gegen Ende. Für die Leser des Romans gilt das Gegenteil: Diese Szenen wird man nicht so schnell vergessen.
S. Fischer 2017, 512 Seiten, 31.90 Fr.
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