Abschied vom letzten Artefakt
Die Hüter der Masse und Gewichte planen einen Meilenstein bei der Definition physikalischer Einheiten: Künftig bilden Naturkonstanten die Basis des Messwesens.

Eine Neudefinition der physikalischen Einheiten klingt verlockend, insbesondere, was das Kilogramm betrifft. «Könnte man das nicht so machen, dass die Waage im Badezimmer etwas weniger anzeigt?» Diese Frage wird Jürg Niederhauser, Leiter Stab des Eidgenössischen Instituts für Metrologie (Metas) in Bern-Wabern, häufig von Besuchern gestellt. Die Leute hegen insgeheim die Hoffnung, quasi über Nacht ein paar Kilogramm abzuspecken.
Doch er muss die Besucher leider enttäuschen. Die bevorstehende Neudefinition der physikalischen Einheiten wird so sanft über die Bühne gehen, dass niemand etwas davon bemerken wird. «Aber die Fachleute sind in Anbetracht dessen, was nun entschieden wird, völlig aus dem Häuschen», sagt Niederhauser.
Heute wird die Zunft der Metrologen an der 26. Generalkonferenz für Mass und Gewicht in Versailles das Kilogramm, die Sekunde, das Kelvin und andere Einheiten mit grosser Wahrscheinlichkeit auf das stabilste Fundament stellen, das die Physik zu bieten hat: Sieben Naturkonstanten sollen künftig die sieben Basiseinheiten der Physik definieren.
Besonders einschneidend ist die Änderung beim Kilogramm. Bis heute ist es über das Urkilogramm definiert, einen Metallzylinder, 39 Millimeter hoch, 39 Millimeter breit. Er ruht in einem Safe im Internationalen Büro für Mass und Gewicht im Pariser Vorort Sèvres. Der Londoner Goldschmied Johnson Matthey hat den Zylinder 1879 aus den Edelmetallen Platin und Iridium gegossen und poliert. In den Folgejahren stellte Matthey rund 40 identische Kopien her. Die Schweiz erhielt die Kopie Nr. 38, die am Metas aufbewahrt wird.
Unhaltbarer Zustand
Mehrmals packten die Hüter der Masse und Gewichte ihre Kopie in ein Köfferchen, brachten sie nach Sèvres und verglichen deren Gewicht mit dem Original. Resultat: Die Kopien scheinen im Mittel pro Jahr 0,0000005 Gramm an Gewicht zuzulegen. Niemand weiss warum. Die Abweichung ist zwar winzig und hat keinerlei Einfluss auf die Waage im Badezimmer. Aber für die Wissenschaft ist das scheinbar variable Urkilogramm ein auf Dauer unhaltbarer Zustand.
Ähnlich ergeht es anderen Einheiten. Die Folge: Das Stabilste, was die Natur zu bieten hat, die Naturkonstanten, müssen von Zeit zu Zeit angepasst werden. Denn wenn eine Einheit wie das Kilogramm variiert, dann hat das Auswirkungen auf andere Einheiten, für die das Kilogramm ebenfalls eine Rolle spielt. So bekam die Ladung des Elektrons – eine Naturkonstante – alle vier Jahre einen neuen Zahlenwert, obwohl sie sich real natürlich nicht geändert hat.

Nun soll Schluss sein mit veränderlichen Naturkonstanten. Sieben von ihnen wird per Definition ein fester Wert verpasst. Aus ihnen lassen sich dann die sieben Basiseinheiten der Physik ableiten. Das Mass der Masse zum Beispiel soll künftig mithilfe der Planck-Konstante ermittelt werden, einer in der Quantenphysik wichtigen Grösse. «Zusammen mit der Längeneinheit und der Zeit kann man aus der Planck-Konstante eine Einheit für die Masse ableiten», sagt Beat Jeckelmann, wissenschaftlicher Leiter des Metas. «Dazu braucht man allerdings geeignete Experimente.»
Eines davon ist die sogenannte Watt-Waage. Damit lässt sich das Kilogramm via elektrische Einheiten auf die Planck-Konstante zurückführen. Das andere Experiment ist deutlich intuitiver. Es führt das Kilogramm auf die Masse eines Atoms zurück: Wie viele Atome braucht es, bis sie sich zu einem Kilogramm addieren? Leider sind das sehr viele. Ein Kilogramm Silizium etwa hat rund 20 Quadrillionen Atome, eine Zahl, die durch die sogenannte Avogadro-Konstante definiert ist. Beim Avogadro-Projekt zählen Forscher daher die Anzahl Siliziumatome in einer Siliziumkugel mit 9,4 Zentimetern Durchmesser.
Diese Experimente erreichten Ende 2017 die nötige Präzision. Nun steht der Ablösung des Urkilogramms durch die Planck-Konstante nichts mehr im Weg. Entsprechend werden die restlichen Einheiten auf Naturkonstanten zurückgeführt.
Universell gültiges System
«Grundsätzlich haben die Physiker drei Möglichkeiten, um Einheiten festzulegen», sagt Jeckelmann. Erstens geht das mithilfe von Objekten wie dem Urmeter oder dem Urkilogramm. «Der Nachteil eines solchen Artefakts ist, dass man die Einheit nur an einem Ort verfügbar hat und die Einheit zeitlich nicht stabil ist.»
Neben einem Artefakt kann man die Einheiten zweitens über einen physikalischen Zustand definieren. Ein Beispiel ist das Kelvin, die Einheit für die Temperatur. Sie war bislang durch den sogenannten Tripelpunkt von Wasser definiert, an dem Wasser in allen drei Phasen – fest, flüssig, gasförmig – zugleich vorkommt. «Die Temperatur am Tripelpunkt von Wasser verändert sich nicht mit der Zeit, und er ist unabhängig von Umwelteinflüssen», sagt Jeckelmann. Egal wo im Universum man gerade ist: Mit einem geeigneten Experiment lässt sich die Einheit des Kelvin damit realisieren. Ein Nachteil: Die Genauigkeit der Einheit ist durch die Eigenschaften des gewählten physikalischen Zustands begrenzt.
Daher wird auch das Kelvin künftig unabhängig von Materialien definiert, auf der Basis von Naturkonstanten – der dritten Möglichkeit. Beim Meter ist das seit 1983 der Fall. Damals hat man die Lichtgeschwindigkeit auf den Wert von 299'792'458 Meter pro Sekunde festgelegt. Seitdem ist ein Meter jene Strecke, die Licht im Vakuum innerhalb des Zeitintervalls von 1 durch 299'792'458 Sekunden zurücklegt. «Die Genauigkeit der so definierten Einheiten ist nicht durch Artefakte oder physikalische Zustände limitiert», sagt Jeckelmann. «Vielmehr steigt die Präzision der Einheiten mit dem Stand der Technik.»
Je genauer die Experimente werden, desto genauer kann man die Einheiten realisieren, ohne dass man die Definition der Einheiten ändern muss. «Man könnte sogar einer extraterrestrischen Zivilisation klar machen, wie wir messen, denn Naturkonstanten wie die Lichtgeschwindigkeit findet man in der Natur. Was wir jetzt definieren, ist quasi ein universell gültiges Einheitensystem.» Mehr als 60 Metrologen aus aller Welt werden heute darüber entscheiden. In Kraft treten soll es am 20. Mai 2019.
Livestream von der Generalkonferenz für Mass und Gewicht ab 11 Uhr: www.bipm.org/the-si
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