Adieu, Komfortzone
Nach 17 Jahren bei den Young Boys suchte Trainer Joël Magnin das Abenteuer – und fand es bei Xamax.

Als Jörg Stiel am Dienstag nach dem Training einen Bekannten samt dessen Sohn in den Katakomben des Stade de la Maladière empfängt und Joël Magnin vorbeiläuft, fragt Stiel das Kind, ob es wisse, wer der Mann sei. Als das Kind verneint, sagt der langjährige Nationalspieler, nun Goalietrainer bei den Neuenburgern: «Das ist der Trainer. Mein Chef.» Und erklärt ihm, dass Magnin für GC, Lugano und YB gespielt habe.
Die Szene ist bezeichnend: Magnin mag nach dem Karriereende 2007 zwölf Jahre lang im Nachwuchs von YB gearbeitet haben, auf Profistufe hat er als Trainer aber nichts vorzuweisen, ist ein Neuling – und so gerade bei jüngeren Generationen unbekannt.
Ein paar Minuten später sitzt der 48-Jährige nebenan im Presseraum mit herrlichem Blick auf den Neuenburgersee und sagt: «Mir ist bewusst, dass es schiefgehen kann. Aber ich wollte mir nicht den Vorwurf machen müssen, es nicht gewagt zu haben.»
Verständnis für die Nörgler
Xamax und Magnin: Es ist die vielleicht abenteuerlichste Liaison im Schweizer Fussball. Hier der Club mit dem kleinsten Budget, da der Trainer mit dem geringsten Erfahrungsschatz auf dieser Stufe. Die Kombination hat dazu geführt, dass Xamax als erster Abstiegskandidat gilt und Magnin als Trainer, der seinen Job bald schon verlieren könnte. Der «Blick» setzte ihn in der Rangliste der gefährdetsten Coaches an oberste Stelle. Der Familienvater hat das alles mitbekommen. Er sagt: «Ich bin froh, sind wir zumindest in einer Tabelle Erster.»
Die trockene Replik ist typisch Magnin, wie sich im Gespräch zeigen wird. Der Neuenburger, dessen Eltern nahe beim Stadion wohnen, begegnet dem zuweilen überdrehten Geschäft mit einer Prise Witz und einer grossen Portion Besonnenheit. Er sagt: «Ich verstehe jene Leute, die so denken. Die Fakten sprechen nicht für uns. Aber es bringt nichts, sich damit aufzuhalten. Wir gehen unseren Weg.»
Der Weg sieht vor, auf junge Spieler zu setzen. Xamax soll ein Ausbildungsclub werden, der dereinst mit Transfers Geld generiert, als Vorbild dient der FC Thun. Deshalb wurden Ende März Magnin als neuer Trainer und Fréderic Page, ein ehemaliger Schweizer U-21-Nationalspieler, als neuer Sportchef ab Sommer engagiert. Obwohl es für Xamax da unter Stéphane Henchoz aufwärtsging. Er könne Henchoz «absolut nichts» vorwerfen, sagte Präsident Christian Binggeli damals. «Seine Sprache passt sehr gut zu Erwachsenen. Aber ich sehe nicht, dass er das Gleiche mit den Jungen schafft.»
Magnins Wahl war dementsprechend logisch, nicht einer Laune des Moments geschuldet: Die Neuenburger hatten den Einheimischen schon 2012 nach dem Zwangsabstieg in die 2. Liga interregional engagieren wollen. Damals sei es nicht der richtige Zeitpunkt gewesen, sagt Magnin. Er bezeichnet sich als Gefühlsmenschen und erzählt, während er die Hände symbolisch auf den Bauch legt, dass im letzten Jahr das Verlangen nach einer Veränderung wuchs. Klar wurde ihm das auf der Fahrt zu einem Auswärtsspiel seiner U-21-Equipe der Young Boys im Oberwallis. «Ich fragte mich: Will ich auch noch zum neunzehnten Mal nach Naters fahren?» Dass er sich solche Gedanken machte, zeigte ihm: «Es ist Zeit für einen Wandel.»
Magnin zieht den Vergleich zum Autofahren. «Am Anfang muss jede Handlung gelernt werden. Irgendwann fährt man Auto, ohne zu überlegen – weil man es so oft gemacht hat.» So habe er sich zum Ende hin bei YB gefühlt. Magnin wollte aus der Komfortzone, die einschloss, dass er mit der Familie fünf Minuten vom Stade de Suisse entfernt wohnt, ein stressfreies Leben führte. «Ob wir gewannen oder verloren, war sekundär. Schliesslich stand die Ausbildung der Spieler im Fokus.»
Improvisieren mit Toaster
Dass er sich aus der Komfortzone bewegen würde, merkte er rasch nach seiner Ernennung zum neuen Xamax-Trainer im Frühling. Mit jedem Sieg wuchs in der Öffentlichkeit das Unverständnis über den Entscheid, Henchoz nicht weiterzubeschäftigen. Magnin verfolgte sämtliche Partien seines künftigen Clubs vor dem Fernseher, er wollte mit dem Gang ins Stadion nicht noch mehr Unruhe stiften. Manchmal beschlichen ihn Zweifel, ob die Führung den Plan auch tatsächlich umsetzen würde. «Es war keine einfache Zeit», sagt er.
Nun, findet Magnin, dürfen alle zufrieden sein: Xamax, das den Abstieg in extremis abwendete, Henchoz, der mit Sion einen neuen Club gefunden hat. Und natürlich: er selbst. An seinem ersten Arbeitstag sagte er den Spielern, die in der Barrage gegen Aarau ein 0:4 gedreht hatten: «Ich bin stolz, euer Trainer zu sein.»
Wobei: Die Ligazugehörigkeit erachtete er als sekundär. Womöglich wäre es gar einfacher gewesen, das neue Projekt in der Challenge League zu lancieren, sagt Magnin. In den ersten Wochen trainierte er ein Rumpfteam, erst nach und nach stiessen Neue dazu, vorab junge Leihspieler wie Taulant Seferi und Léo Seydoux von YB. «Mir wurde beim ersten Gespräch erklärt, was mit unserem Budget drinliegt und was nicht. Deshalb beklagte ich mich nicht.» Dass er aber vom Materialwart vor dem Saisonstart in Thun angefragt wurde, den eigenen Toaster für die Verpflegung der Spieler mitzubringen, weil sich im Stadion keiner hatte finden lassen, überraschte Magnin dann schon. Er schmunzelt, als er die Episode erzählt. Ihm gefällt, dass er nun neben dem Platz gefordert ist. Sei es mit Organisatorischem, der Medienarbeit oder dem Zusammenspiel mit Präsident und Sportchef. Es fühlt sich an, als würde er wieder lernen, Auto zu fahren.
Die Frage ist, wohin die Reise führt. Das 2:2 in Thun sei eine Standortbestimmung gewesen, sagt Magnin. Vorher habe er nicht gewusst, ob sein Team überhaupt eine Chance habe, in der Liga zu bestehen. «Nun wissen wir, es gibt eine kleine. Aber nur, wenn alle am selben Strick ziehen.»
Am Sonntag daheim gegen Meister YB hat Xamax immerhin nichts zu verlieren. Wie er auf das Wiedersehen mit dem Club, für den er als Spieler und Trainer 17 Jahre arbeitete, emotional reagieren werde, wisse er nicht, sagt Magnin. «Ich werde versuchen, mich auf meinen Job zu fokussieren.» Sollte Xamax die Überraschung gelingen, dürften ein paar Kinder mehr Jöel Magnin kennen.
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