Adrenalinrausch im Hochgebirge
Gudi Campell, Jäger, Gastgeber und Skilehrer in der Oberengadiner Gemeinde S-chanf, hegt das Wild im Gebirge und pflegt die Tradition der Familie.
Der Morgenwind trocknet die schweissnasse Nasenspitze. Das ist gut so; denn würde die Luft ihn hinter den Ohren kitzeln, so eine alte Jägerweisheit, könnte er die Flinte gleich wieder einpacken. Das Wild würde den Menschen wittern, lange bevor dieser es zu Gesicht bekommt – und wäre über alle Berge. Jetzt aber steht die Beute dort oben auf dem Felsband, regungslos, ahnungslos – keine hundert Meter entfernt.
Im Dunkel der Nacht hat er sich auf den Weg gemacht. Ist hinaufgestiegen, ins Gebirge, 800 Höhenmeter in zwei Stunden. Gudi Campell, 32, hat die Baumgrenze erreicht, als die Sonne sich über die Berge schiebt und ihre Strahlen auf die Alp Murter wirft, auf Gudis Jagdrevier. Aus der Sennhütte, die im Sommer der Familie als Wochenend-Refugium dient, ist eine Jagdhütte geworden.
Der Mann, der offiziell Gudench heisst, legt die Flinte an, nimmt das Tier ins Visier und spürt im selben Moment, wie das Adrenalin sein Gehirn flutet – ein Rausch, der totale Anspannung und höchste Konzentration mit vollkommener Gelassenheit verbindet. Er diktiert die Gedanken und steuert die kleine todbringende Bewegung des rechten Zeigefingers. Aber Gudi drückt nicht ab. Noch nicht.
Furchterregend das Brüllen brünstiger Hirschstiere
Noch bis Ende Monat ist die Bündner Hochjagd im Gang. Im ganzen Kanton sind über 5000 Jäger auf der Pirsch, darunter 200 Mitglieder der Jagdgesellschaft Droslöng, in deren Vorstand Gudi für die vereinsinternen Events zuständig ist. Die Jagd im Hochgebirge stellt hohe Ansprüche an die körperliche Fitness: «Alle ein bis zwei Jahre kommt einer von uns ums Leben; das sind keine Schiessunfälle: Die meisten stürzen ab.»
Das Tier rührt sich nicht. Gudi schaut genau hin, er will jeden Zweifel ausräumen, spricht es noch einmal an – so nennt der Jäger den Vorgang des Identifizierens. Das Zielfernrohr bestätigt, was der Feldstecher deutlich gemacht hat: Es ist eine Gämse, ein weibliches Tier. Und die Geiss führt nicht. Soll heissen: Sie nährt momentan keine Jungtiere, deutlich zu erkennen am unauffälligen Gesäuge zwischen den Hinterläufen. Jetzt weiss Gudi: Sie ist jagdbar.
«Für den Bären ist die Schweiz zu klein.»
Von den Hängen des Val Trupchun hallt ein trockener Knall. Dort hinten beginnt der Nationalpark; manchmal streifen Wölfe durch die Gegend. Seltener findet ein Bär den Weg vom Trentino ins Engadin. Beide, denkt Gudi, haben ein Recht, hier zu leben: «Die Wölfe allerdings vermehren sich so rasch, dass wir den Bestand regulieren sollten. Für den Bären hingegen ist die Schweiz zu klein – sonst würde er nicht immer wieder verschwinden.»
An jagdfreien Tagen beobachtet Gudi das Rotwild durch den Feldstecher. Spektakulär setzt der Herbst die Natur in Szene: Er lässt die Mischwälder in feurigen Farben lodern. Furchterregend das Brüllen brünstiger Hirschstiere.

Gudi Campell ist in Cinuos-chel aufgewachsen, einer Fraktion von S-chanf, der untersten Gemeinde des Oberengadins. Hier führt er, bereits in der dritten Generation, das Veduta, ein gemütliches kleines Hotel mit einem Restaurant, das weitherum für seine Wild-Spezialitäten bekannt ist: Gudi hatte, bevor er von seinem Vater Riet den Familienbetrieb übernahm, eine Kochlehre abgeschlossen. Während Bruder Cla in Zürich eine Karriere als Werbetexter eingeschlagen und Schwester Annina als «SRF-bi-de-Lüt»-Moderatorin TV-Prominenz erlangt hat, ist Gudi in sein Tal zurückgekehrt – und in die Fussstapfen des Vaters.
Von ihm hat er nicht nur die Leidenschaft für die Jagd und die Verantwortung für den Gastronomiebetrieb übernommen, der Papa ist ihm auch im Schnee ein Vorbild: In Bern amtet er als Direktor des Skilehrer-Verbands, während Gudi die Skischule im Nachbardorf Zuoz leitet. Dort hat er auch die junge Skilehrerin Sabrina kennen gelernt; sie ist unterdessen seine Frau und hat vor zwei Monaten Franca zur Welt gebracht, das erste gemeinsame Kind.
Auch Gemeindepräsident Gianni Largiadèr freut sich über das neue Mitglied in der Gemeinde: In den letzten fünf Jahren ist die Wohnbevölkerung von 752 um rund 10 Prozent auf 686 Menschen geschrumpft. «Das ist besorgniserregend», sagt Largiadèr. «Wir müssen für Zuwanderer aus der deutschsprachigen Schweiz attraktiver werden. Deshalb wollen wir die Zweisprachigkeit fördern – ohne das Romanische zu vernachlässigen.»
Gudi hat gut gezielt, das weiss er – genau aufs Blatt
Die Gämse ist verschwunden. Gudi hat gut gezielt, das weiss er – genau aufs Blatt, zwischen Rippenbogen und Schulterblatt liegt die Herz-Lungen-Kammer, da tötet das Geschoss rasch und schmerzfrei. Nach einem Treffer in den Leib kann es hingegen Stunden dauern, bis der Tod das Tier erlöst. Gudi wartet. Fünfzehn, zwanzig Minuten. Er will das Tier beim Sterben nicht stören. Das ist des Jägers Ehrensache.

Wenn der Engadiner auf sein Hobby zu sprechen kommt, hört er oft den Vorwurf, wer Freude am Töten empfinde, sei pervers und grausam. «Ich bin ein Fleischjäger», argumentiert er dann, «kein Trophäensammler.» Fleisch sei ein Grundnahrungsmittel; er ziehe das Fleisch von Tieren, die in ihrer natürlichen Umgebung, in freier Wildbahn, gestorben sind, jenem von Nutztieren vor, die stundenlang in Lastwagen gepfercht zum Schlachthof gekarrt werden. «Es wäre viel humaner», fährt er fort, «wenn Schafe, Schweine und Kühe auf der Weide geschossen werden dürften.»
Die Gämse liegt in ihrem Blut. Ein sauberer Blattschuss. Gudi atmet auf. Er legt dem Tier einen Zweig in den Fang und achtet darauf, dass er nicht über den Kadaver steigt. «Das letzte Mahl», sagt er. «Diese Dank- und Respektsbezeugung ist der Jäger dem Tier schuldig.» Er ist nachdenklich geworden. Bei aller Leidenschaft für die Jagd, räumt er ein, komme ihm nach der Schussabgabe stets derselbe Gedanke: «Hat das jetzt wirklich sein müssen?»
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