+++ Afrika +++ USA +++ Brasilien +++ Fussball +++ Emotionen
Wie kommt die WM in Accra in Ghana an? Und wie in Bogota und Peking? Unsere Korrespondenten Johannes Dieterich, Christoph Neidhart, Martin Kilian und weitere antworten aus allen Regionen der Welt.

Lateinamerika: Kollektiver Stolz und nationale Animositäten
Ganz Lateinamerika ist fussballbegeistert und verfolgt die WM in Brasilien mit höchstem Interesse. Aber die Länder, in denen ein verlorenes oder gewonnenes Spiel zu einer Frage von Leben und Tod, zum nationalen Triumph oder zur kollektiven Katastrophe stilisiert werden, sind Argentinien und Brasilien. Auch in Kolumbien erklimmt die Fussball-Verrücktheit im Moment historische Höchstwerte, während die Mexikaner vergleichsweise gelassen scheinen. Bei der unglücklichen Niederlage gegen Holland floss am Public Viewing auf dem Hauptplatz der Stadt Cuernavaca keine einzige Träne, was in Brasilien undenkbar wäre. Es ist, als hätten sich die Mexikaner im Verlaufe der Jahre und Jahrzehnte daran gewöhnt, jeweils im Achtelfinale zu scheitern.
Insgesamt sind die Latinos kollektiv stolz auf das gute Abschneiden lateinamerikanischer Mannschaften in der Ausscheidungsrunde, aber nationale Animositäten schlagen sich natürlich trotzdem nieder. Besonders Argentinien und Brasilien wünschen sich gegenseitig ein möglichst baldiges Ausscheiden.
Bemerkenswerte Auswirkungen hat die Fussball-WM auf Zentralamerika, insbesondere auf das Verhältnis zwischen Costa Rica und Nicaragua. Zwischen den beiden Ländern herrschen diplomatische Spannungen und juristische Streitigkeiten um den genauen Grenzverlauf, während die vielen nicaraguanischen Gastarbeiter (genannt «nicas») bei den vergleichsweise wohlhabenden Costa Ricanern (genannt «ticos») teilweise auf Ablehnung stossen. Nun wird jedoch das Überraschungsteam aus Costa Rica in ganz Zentralamerika als heldenhafter Vertreter der ganzen Region betrachtet – besonders in Nicaragua, wo der costaricanische Verteidiger Óscar Duarte geboren ist. Nach dem Sieg im Penaltyschiessen gegen Griechenland titelte eine nicaraguanische Zeitschrift: «Ganz Zentralamerika sagt mit einer Stimme: Danke, Costa Rica!»Sandro Benini, Mexiko-Stadt
----------
USA: Grosser Hype um das «un-amerikanische» Spiel
Das US-Team mag ausgeschieden sein, nie zuvor aber war die Begeisterung für «Soccer» in den Vereinigten Staaten grösser. Der Sport, einst eine Nischenerscheinung in Immigrantenvierteln, ist 2014 ins nationale Bewusstsein gerückt – und wird dort auch bleiben. Eine neue Generation von Fans, die schon als Kinder Fussball spielten, wird dafür ebenso sorgen wie US-Latinos, die ihre Fussballbegeisterung an die Jüngeren weitergeben.
Bei Konservativen hingegen gilt der Sport noch immer als «un-amerikanisch» und aufgepfropft: Baseball, Football und Basketball seien wahre amerikanische Sportarten, nicht «Soccer». So behauptete die konservative Kolumnistin Ann Coulter etwa, das «wachsende Interesse» an Fussball in den USA signalisiere «moralischen Verfall» – wofür Coulter einhellig von rechts bis links angefeindet wurde. Immerhin versammelten sich ganze Belegschaften vor dem TV, wenn immer die USA spielten, auch Präsident Barack Obama schaute regelmässig zu.
Entsprechend sensationell waren die Einschaltquoten für die Spiele des amerikanischen Teams: Sie lagen höher als die Quoten der Endspiele im Baseball wie in der Basketball-Profiliga NBA. Nun erwarten die amerikanischen Fans, dass ihr Team spätestens 2022 ganz vorne mitmischen wird. Möglich wäre es schon deshalb, weil an US-Schulen und Universitäten eine gewaltiges Reservoir von Talenten heranwächst. Und zumindest in amerikanischen Träumen ist ein Einzug eines US-Teams in ein Endspiel der Fussball-Weltmeisterschaft eine ausgemachte Sache. Martin Kilian, Washington
----------

Deutschland: Schwarz-rot-normal
Die Auto-Wimpel mit der deutschen Trikolore tauchten schon Tage vor dem ersten WM-Spiel auf; dann die schwarz-rot-goldenen Hüte, die Blumenkränze, die Krawatten. Deutschland huldigt bei dieser WM seiner Fussball-Elf ausgiebig mit nationaler Symbolik. Public Viewing ist zudem zum Volkssport geworden. Beispiel Berlin: Keine Kneipe ohne TV, keine Bar ohne Fussball-Übertragung. Und im Epizentrum, auf der Fan-Meile vor dem Brandenburger Tor, versammeln sich jeweils Zehntausende.
Es ist eine WM-Normalität, wie sie viele Länder kennen; nur, dass sie in Deutschland relativ neu ist. Bis vor wenigen Jahren stand unter Nationalismusverdacht, wer zu offensiv dem deutschen Team zujubelte. Schwarz-Rot-Gold und Nationalhymne galten als Attribut unverbesserlicher Ewiggestrigkeit. Eine Folge zweifellos der schrecklichen deutschen Geschichte. Hitlers Fanatismus diskreditierte das Gefühl von Heimatliebe für Jahrzehnte. Erst die 2006 in Deutschland ausgetragene WM hat das geändert: «Die Welt zu Gast bei Freunden», war damals das Motto. Deutschland präsentierte sich als freundliches, modernes Land – und gewann im Gegenzug ein unverkrampftes Verhältnis zu sich selbst.
Was jetzt noch etwas fehlt, ist Leidenschaft von der ersten Spielminute an. Bisher nämlich hakten die meisten Fans die Siege der deutschen Elf als Pflichtleistung ab. Während die Schweizer Exil-Gemeinde im Berliner Restaurant Helvetia jeden gelungenen Pass von Hitzfelds Team bejubelte, stieg die Stimmung bei den Einheimischen selbst nach Toren nur moderat. Das Selbstbewusstsein der deutschen Fussballnation hat einfach weder Ghana noch die USA, nicht einmal Portugal oder Algerien als wirklich ebenbürtigen Gegner wahrgenommen. Das ändert sich vielleicht diesen Freitag: Da geht es im Viertelfinal gegen Frankreich. David Nauer, Berlin
----------

Afrika: Nach der Hoffnung wie immer die Enttäuschung
Alle vier Jahre wieder dasselbe Schauspiel. Vor der WM ist jeder Afrikaner felsenfest davon überzeugt, dass es diesmal klappen wird: Endlich wird Nigeria, Ghana oder die Elfenbeinküste Weltmeister werden. Hatte nicht Pele bereits vor Urzeiten prophezeit, dass der WM-Pokal spätestens bis zum Jahr 2000 nach Afrika gehen wird? Schliesslich kommen aus dem sonnenverwöhnten Kontinent viele der besten Kicker der Welt, ob sie nun Didier Drogba, Samuel Eto'o oder Yaya Touré heissen.
Am Ende der Vorrunde ziehen sich dann regelmässig die Gesichter in die Länge. Meistens sind dann vier der fünf afrikanischen Teams bereits ausgeschieden. Dass mit Algerien und Nigeria dieses Mal gleich zwei Teams ins Achtelfinale kamen, ist eine Premiere. Nur selten gelingt es einer afrikanischen Mannschaft – wie Ghana vor vier Jahren, Senegal 2002 oder Kamerun 1990 – bis ins Viertelfinale vorzustossen, ins Halbfinale hat es ein Team des Fussball-vernarrten Erdteils noch nie geschafft. Wenn eine afrikanische Mannschaft die Vorrunde überlebt, zeigt der Kontinent allerdings, welche verbindenden Kräfte in ihm stecken: Dann wird Afrika zu einem Land. Selbst Nigeria, dessen Bevölkerung keineswegs zur beliebtesten des Erdteils zählt, wird dann zu einer Herzensangelegenheit. Von Kapstadt über Juba bis nach Timbuktu wurden die grünen Super-Adler in ihrem Achtelfinal-Match gegen Frankreich angespornt: Genützt hat es allerdings nichts.
Wer für die regelmässige Enttäuschung des afrikanischen Traums verantwortlich ist, wird auch derzeit wieder leidenschaftlich debattiert. Gewöhnlich wird das mangelnde «nationale» Engagement der individualistischen Kicker oder die Unfähigkeit der afrikanischen Fussballfunktionäre ins Feld geführt. Die Spieler hätten es lediglich auf ihre Schecks abgesehen, sagen Kritiker unter Verweis des ständig wiederkehrenden Streits um die Prämien, der auch in diesem Jahr wieder die Berichterstattung über die Teams aus Kamerun, Ghana und Nigeria beherrschte. Ghanas Präsident sandte eine Maschine mit einem Koffer voller Dollarnoten nach Brasilien, damit die westafrikanischen Kicker überhaupt weiterspielten. Dass es zu solchen Szenen kommt, führen Beobachter auf Sportfunktionäre zurück, denen die eigene Tasche wichtiger ist als das Abschneiden ihres Nationalteams: Wahrscheinlich werden Afrikas Niederlagen tatsächlich ausserhalb des Spielfelds vorbereitet. Johannes Dieterich, Johannesburg
----------

Frankreich: Algerische Konkurrenz für die «Bleus»
Man ist wieder wer, fussballerisch zumal, und das tut der französischen Volksseele so gut, dass dieser Tage der Bürgermeister von Nizza selbst das allzu wackere Schwenken ausländischer Nationalfahnen in seiner Stadt untersagte. Gemeint waren natürlich vor allem die algerischen Banner und die Angelegenheit ist nur ganz am Rande eine fussballerische. In Frankreich leben so viele Menschen mit algerischen Wurzeln, dass die Strassen Frankreichs nach Siegen Algeriens meist voller sind mit jubelnden, zuweilen auch mal energisch feuerwerkelnden Fans als nach Siegen der Bleus. Sogar die Champs-Elysées, eine der schönsten Strassen für einen Corso und Gradmesser allen sportlichen Jubels, mutete algerischer als französisch an.
Nun, da Algerien traurig und mit Courage ausgeschieden ist, das Duell zwischen der früheren Kolonialmacht mit seiner Kolonie vermieden, hat sich die Spannung auf eine andere geopolitische Ebene verschoben – nicht minder brisant: Der Viertelfinal Frankreich vs. Deutschland wird beschrieben, als würden da nicht zwei Fussballmannschaften aufeinandertreffen, sondern zwei Länder mit ihren nationalen Geschichten, inklusive der kriegerischen. Da hofft man dann auch schon mal, dass die WM bald vorbei ist. Oliver Meiler, Paris
----------

Russland/Ukraine: Das Spiel neben dem Schlachtfeld
Zu den Weisheiten, die Wladimir Putin gerne verbreitet, gehört diejenige, dass man Sport und Politik nicht vermischen sollte. Das ist natürlich etwas heuchlerisch, schliesslich ist der russische Präsident selbst ein Meister genau dieser unappetitlichen Mixtur. Wir erinnern uns, wie er Milliarden an Staatsgeld nach Sotschi pumpte, um nachher selber im Schein des olympischen Feuers zu glänzen.
Die diesjährige Fussball-WM führt nun einmal mehr vor Augen, wie politisch Sport ist. Wie sehr aber auch der Sport unter der Politik leidet. Die Russen haben natürlich ihre «Sbornaja», wie das Nationalteam heisst, leidenschaftlich angefeuert wie immer, vielleicht sogar noch etwas mehr: schliesslich befindet sich das Land gerade in einem nationalen Rausch. Mit der Annexion der Krim hat sich ein Gefühl der Unbesiegbarkeit breitgemacht. Umso schwerer zu verdauen war dann der Rausschmiss schon in der Vorrunde. Die Spieler der Sbornaja, mutmasste ein Politiker im Boulevard-Blatt «Komsomolskaja Pravda», würden eben die Heimat nicht genug lieben – daher das lausige Spiel. Andere vermuten, die Ukrainer seien schuld – schliesslich hätten die Nachbarn konsequent Russlands Turnier-Gegner unterstützt.
Tatsächlich hat in der Ukraine kaum jemand den Russen die Daumen gedrückt, kriegsbedingt sozusagen. Seit Russland den Konflikt im Osten des Landes mit Waffen, Kämpfern und hysterischer Propaganda befeuert, ist die Sympathie der Ukrainer für das Brudervolk stark geschrumpft. Eine aktuelle Umfrage belegt, dass dies auch für den Fussball gilt. Bei der Europameisterschaft 2012 hat rund ein Viertel der Ukrainer auf Siege des russischen Teams gehofft. Bei der diesjährigen WM sind es noch sechs Prozent gewesen. David Nauer, Berlin
----------

Asien: Ausreden der Japaner und wettverrückte Chinesen
Voller Selbstmitleid haderte Japan am frühen Morgen des vorletzten Mittwoch mit ihren «Samurai Blue»: Die WM war für Nippon bereits vorbei. Mitten in der Nacht hatten sich Zehntausende zu Public Viewings eingefunden. Jetzt schlichen sie müde und verkatert in ihren blauen Trikots durch den Berufsverkehr davon. Die Erwartungen der Japaner, vor allem jener, die Fussball sonst nicht verfolgen, also der grossen Mehrheit, waren wieder einmal viel zu hoch, die Realität niederschmetternd. Die Mannschaft habe nie zu ihrem eigenen Spiel gefunden, hiess es über drei nette, brave Auftritte in Brasilien. Dann kamen jene Ausreden, die immer kommen: Die Spieler aus Europa und Südamerika seien eben viel grösser, physisch stärker, verschlagener... «Wir armen kleinen Asiaten.» Auch Südkorea sei ja ausgeschieden, und China gar nicht dabei. Da der Iran die Heimreise ebenfalls ohne Sieg antreten musste, ist dies die schlechteste WM für Asien seit langem.
Dass Nippons Frauen derzeit Weltmeisterinnen sind, hat man in Japan schon fast vergessen. Überhaupt: Was zählen in Japan Frauen? Zu Olympia 2012 flog das Männer-Team Business, die Weltmeisterinnen dagegen, die in London dann Silber holten, Economy. Nach dem Ausscheiden der «Samurai Blue» mit nur einem Pünktchen ist für die meisten Japaner die WM vorbei. Ihre Aufmerksamkeit gehört wieder Baseball. Nur auf eine Meldung sind sie stolz. Die Brasilianer sollen staunend zugeschaut haben, als japanische Fans nach den Spielen ihren Tribünensektor aufräumten. Das tun sie hier immer.
Enttäuscht ist man auch in Südkorea, wo Fussball populärer ist als in Japan. Bei der WM im eigenen Land schafften es die «Roten Teufel» bis ins Halbfinale, aber die magere Bilanz war bald abgehakt, das Team habe Zukunft. Und die Erwartungen waren realistischer.
Nirgends in Nordostasien ist Fussball so populär wie in China. Dabei haben sehr viele Chinesen für die eigenen Fussballer mit ihren vielen Skandalen nur Verachtung übrig. Vielleicht ist es gar nicht der Fussball, der populär ist, sondern das Wetten. Obwohl Sportwetten verboten sind, setzen Millionen Chinesen über Untergrund-Wettbüros, zum Beispiel in Singapur oder Macao, Geld auf den Ausgang der WM-Matches. Derweil kursieren auf Chinas Chat-Sites dumme Witze über Frauen, die nichts von Fussball verstünden. Dabei ist auch in China das Frauenteam viel erfolgreicher als jenes der Männer. Christoph Neidhart, Tokio
----------

Spanien: Transfergerüchte und Polemiken als Zeitvertreib
Wie das Interesse doch erlahmt, urplötzlich, wenn die eigenen Lieblinge entzaubert sind. Nachdem «La Roja» bereits nach der Gruppenphase aus dem Turnier ausgeschieden war, beschäftigen sich die Spanier zunächst ein kleines Weilchen mit der Frage nach dem Ende des eigenen hegemonischen Zyklus – ist er nun vorbei oder macht er nur einen Zwischenstopp? – und seither sehr intensiv mit den halb- bis gar nicht gebackenen Transfergerüchten bei Real Madrid und beim FC Barcelona. Da wird nun wirklich jedes Gesäusel rapportiert, als wollte man so die schwierige Zeit ohne sportliche Weltbedeutung irgendwie überbrücken. Zuweilen hört man doch noch hupende Autos, in den Strassen Barcelonas etwa – von Südamerikanern. Da kommen auch schon mal locker genügend zusammen für einen Corso.
Ein bisschen echauffieren mochte man sich bei der Polemik um Cristiano Ronaldo und Lionel Messi, den so ungleichen Stars von Real und Barça: Vom Portugiesen heisst es, er habe im Club loyal alles gegeben, sogar verletzt gespielt, und sei dann halt nicht fit genug zur WM gefahren; vom Argentinier sagt man vorwurfsvoll, er habe seinen Verein vernachlässigt, um bei der WM zu brillieren. So vertreibt man sich die Zeit, froh um jede Debatte. Oliver Meiler, Barcelona
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch