«Aggression und Beschimpfungen gehören dazu»
Der französische Tänzer und Choreograf Boris Charmatz spricht über sein Projekt «Terrain» am Theater Spektakel – wo die Zuschauer auf dem Gelände miteinbezogen werden.

Boris Charmatz, Ihre Vorfahren stammten aus Deutschland. Könnten wir also Deutsch miteinander sprechen?
Ich verstehe und spreche zwar etwas Deutsch, aber für ein Interview genügt es wohl nicht. Wegen der Geschichte meiner Eltern fühle ich mich aber auf besondere Weise mit Zürich verbunden. Mein Vater wurde als jüdisches Flüchtlingskind im Zweiten Weltkrieg von einem Zürcher Pfarrer aufgenommen. Auch seine Schwester fand in der Schweiz Unterschlupf. Vielleicht wurde ich also nur geboren, weil es in Zürich Menschen gab, die Flüchtlinge willkommen hiessen.
Sie kommen für 18 Tage nach Zürich und bespielen am Theater Spektakel eine Bühne ohne Dach und ohne Wände. Dabei sind Sie in ständigem Kontakt mit dem Publikum. Wie halten Sie diesen Marathon durch?
Natürlich habe ich Respekt, denn ich weiss selbst noch nicht, worauf wir uns einlassen. Aber genau das macht das Experiment ja so spannend. Als ich vor einem Jahr «10'000 gestes» am Theaterspektakel zeigte, gefiel es mir hier so gut, dass ich nichts verändern wollte: Ich genoss den See, das Festival, die Atmosphäre. Aber die Aufgabe von uns Künstlern ist es, Gegebenes infrage zu stellen, Bestehendes zu verändern. Diese Gedanken gehören zu den Grundbausteinen von «Terrain»: Ich wollte die Besonderheit, dieses Leben unter freiem Himmel, wo Kultur und Freizeit miteinander verschmelzen, in unsere Arbeit einfliessen lassen. Es gibt keine Sekunde, in der wir vergessen können, wo wir sind.
Ihre Anwesenheit wird so zur Dauer-Performance?
Ich möchte sehen, wie unsere Präsenz das Spektakel verändert, wenn wir uns nicht in die schwarze Box eines Theaterraums zurückziehen können. Wie die Geräusche der Landiwiese auf uns einwirken und wie wir umgekehrt das Geschehen beeinflussen. Vielleicht schaut uns jemand, der eigentlich schwimmen gehen wollte, plötzlich zu? Oder jemand, der uns sehen wollte, beschliesst spontan, doch lieber schwimmen zu gehen? Die Grundfrage lautet: Wie kann Kunst im leeren Raum allein aus der Energie der Körper entstehen?

Geht es Ihnen auch darum, die Kunst in den Alltag zu holen?
Es geht weniger um Alltag als um die Unmittelbarkeit. Mich interessiert, wie das Theater der Zukunft aussehen könnte. «Terrain» ist der Ausgangspunkt für ein Langzeitprojekt, das mich schon länger beschäftigt. Ich denke an einen Kunstraum ohne Architektur. Wo keine Institutionen und keine Wände zwischen Kultur und Publikum stehen. Wo das Geld nicht in den Bau gesteckt wird, sondern nur in die Kunst.
Wie sieht das aus?
Das ist vielleicht ein grosser, leerer Platz mitten in der Stadt, den man ein Jahr lang bespielen kann. Am Theater Spektakel sind wir jetzt etwas ausserhalb, aber es entsteht schon eine grosse Durchlässigkeit: Ich kann auf der Landiwiese Tänzer sein und im Bruchteil weniger Augenblicke meine Freizeit geniessen. Gleichzeitig werden die Zuschauer Teil der Choreografie.
Wie durchlässig ist diesbezüglich ihre Improvisation mit dem französischen Jazzmusiker Médéric Collignon zu Beginn des Festivals?
Es gibt keinerlei Absprache im Vorfeld, wir lassen uns voneinander überraschen. Aber wir kennen uns sehr gut und haben auch schon früher in dieser Weise zusammengearbeitet. Die Idee war, das Terrain abzustecken, einen ersten Besitz davon zu ergreifen auf eine Art, die dem gesamten Projekt entspricht. Diese lange, öffentlich zugängliche Präsenz ist ja letztlich auch eine einzige grosse Improvisation – trotz der Aufführungen von bestehenden Stücken, die darin eingebaut sind.
«Wir arbeiten ohne Absicherung bei jedem Wetter, ganz gleich, wer kommt. Mir gefällt die Arbeit mit dem Unerwarteten.»
Zu den bestehenden Stücken gehört «infini», das erst im Juli seine Uraufführung erlebte. Bedeutet der Titel, dass Sie mit der Unfertigkeit spielen, oder befassen Sie sich eher mit Unendlichkeit?
Die Doppeldeutigkeit des Titels ist jedenfalls passend. Wir wissen noch nicht, wie es sein wird in dieser völlig neuen Umgebung. Es ist ja noch so neu und verletzlich – wie frische Farbe. Zahlen spielen eine wichtige Rolle: Wir zählen und erzählen dazu. Es geht also um Historisches und gleichzeitig um die Unendlichkeit. Einiges wird auch improvisiert sein.
Ganz im Gegensatz zu «20 danseurs pour le XXe siècle». Da zeigen 20 Tänzerinnen und Tänzer über das Festivalgelände verteilt Solos aus der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie bezeichnen das Projekt selbst als eine «Ausstellung». Sollte es nicht eher in einem Museum oder einer Galerie gezeigt werden – einer Institution mit Mauern also?
Es war bereits im Moma in New York und an der Tate Modern in London zu sehen. Der Gegensatz zu den Kunstwerken im Museumsraum verdeutlichte die Flüchtigkeit des Tanzes, der ja immer an den Augenblick gebunden ist. Die Tanzenden selbst sind mit ihren Körpern das Museum des Tanzes. Was mir in Zürich gefällt, ist, dass der Vergleich wegfällt – oder doch ein ganz anderer ist: Wir vergleichen hier mit dem See oder dem Rummel auf der Wiese und nicht, ob das Solo zu einem Bild von Picasso oder einer Skulptur von Rodin passt. Das hat eine neue, eigene Qualität.
Die «Warm-ups» sind öffentlich und gratis. Was möchten Sie damit erreichen?
Es ging uns darum, einen Fixpunkt zu haben, der jeden Tag stattfindet. Unabhängig von dem, was sonst noch läuft. Jede und jeder kann teilnehmen, egal, wie alt und wie begabt. Es geht mir um die Begegnung auf Augenhöhe. Tanz ist eine horizontale Kunst – der Austausch zwischen den Tänzern und dem Publikum ist unmittelbar. Wir arbeiten ohne Absicherung bei jedem Wetter, ganz gleich, wer kommt. Mir gefällt die Arbeit mit dem Unerwarteten.

Sie sind immer sehr nah am Publikum. Gibt es auch negative Reaktionen?
Natürlich habe ich schon Aggression und Beschimpfungen erlebt, das gehört dazu. Auch letztes Jahr am Theater Spektakel störten sich manche an der Nacktheit der Tänzer. Aber Tanz ist ja nicht nur nett und schön, sondern auch eine ständige Auseinandersetzung. Es geht immer auch darum, unseren Standpunkt und unsere Freiheit zu verteidigen. Ich will offen sein, aber ich stehe zu dem, was ich tue. Das habe ich schon als Jugendlicher gelernt. Wer den Spott der Mitschüler nicht ertragen kann, geht in seiner Freizeit nicht ins Ballett.
Angesichts Ihrer Familiengeschichte: Macht Ihnen die wachsende Intoleranz in der Gesellschaft keine Sorgen?
Wir alle spüren die Veränderung. Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, und aus der Erfahrung, dass so etwas nie wieder geschehen darf, die Regeln unserer Demokratie aufgebaut hat, stirbt weg. Die nachkommenden Generationen nehmen das nicht mehr so wichtig. Dafür sind wir alle mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert, mit der wachsenden Polarisierung, mit den Diskussionen um Europa. Das ist unsere Realität. Ich kann mit meiner Arbeit nur indirekt reagieren. Tanz funktioniert nicht von oben herab. Darum ist Tanz ein gutes Medium, um Gemeinsamkeiten zu üben und gleichzeitig Verschiedenheiten zuzulassen. Ich freue mich auf alle, die mitmachen, und hoffe, dass viele uns besuchen kommen. Und dass etwas Eigenes daraus entsteht.
Das Zürcher Theaterspektakel dauert vom 15.8. bis 1.9.
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