Alex Freis Antwort in der Krise
Das Nationalteam leidet, der Captain jubelt in Dortmund.
Die erste Halbzeit sass Alex Frei auf der Bank, als Dortmund im grossen Revierderby gegen Schalke 0:2 in Rückstand geriet. Er stand auf dem Platz beim 0:3 und der vermeintlichen Entscheidung. Eine schlimme Woche schien für ihn ein trostloses Ende zu finden.
Dann begann Frei vor den 80 000 Zuschauern erst recht zu kämpfen, schlug den Corner zum 1:3, erzielte das 2:3 mit einen wunderbaren Distanzschuss, und in der 89. Minute war er der Stürmer der Nerven: Er verwertete einen Elfmeter zum Ausgleich. Vor ihm tobte die mächtige Südtribüne. Und Frei sagte: «Das 3:3 spricht für unsere Moral und mentale Verfassung.» Und spricht es auch für ihn? «Das lasse ich andere beurteilen.»
Vor vier Monaten hatte er letztmals für Dortmund gespielt und getroffen. Dann kam die EM, die Knieoperation, die Rehabilitation. Und dann kam eben diese Woche, in der Frei auf «eine Achterbahnfahrt der Gefühle» katapultiert wurde. Denn vor dem Samstag hatte es diesen Mittwoch gegeben, als die Schweizer Nationalmannschaft den Tiefpunkt ihrer 103-jährigen Geschichte erlebte und Frei als ihr Captain mittendrin war. Das 1:2 in der WM-Qualifikation gegen Luxemburg ist eine Niederlage, die verstört und Wunden aufgerissen hat. Und nicht nur das: Sie kann zum Schaden einer ganzen Kampagne werden und zur Folge haben, dass die Schweiz 2010 nicht in Südafrika vertreten ist.
Zwischen Selbstverständnis und Stillstand
Mit den Teilnahmen an der EM 2004, der WM 2006 und der EM 2008 haben die Spieler ein neues Selbstverständnis entwickelt. Um das positiv zu sehen: Das ist nicht mehr typisch schweizerisch, sondern von einem neuen Geist geprägt, nicht von Zweifeln, sondern dem Vertrauen in die eigene Stärke. Um es aber kritisch zu sehen: Es hat zu Betriebsblindheit geführt. Die Spieler hinterfragen sich nicht mehr oder zumindest zu wenig. Sie reden sich stark, ohne so stark zu sein, wie sie selbst glauben. Sie vergessen, dass im Fussball «nichts gottgegeben ist» (Verbandspräsident Ralph Zloczower) - schon gar nicht die Qualifikation für eine WM und nicht einmal ein Sieg gegen einen Fussballzwerg.
Die Nationalmannschaft ist die Lokomotive des Verbandes. Sie spielt das Geld ein, das sie selbst auch wieder verbrennen darf. Seit dem Sommer 2004 und dem Turnier in Portugal hat ihre Rundumversorgung schon fast feudale Züge angenommen. Die Spieler müssen nur noch eines selbst: spielen.
Sie haben in den letzten Jahren Gutes und Erfreuliches geleistet. Dafür sind sie auch gelobt und gefeiert worden. An die WM in Deutschland wurden sie von Zehntausenden Fans begleitet. Im folgenden Oktober fuhren sie nach Österreich, zogen sich goldene Leibchen über, verloren 1:2. Und mit dieser Niederlage setzte ihre Fehlentwicklung ein. Sie machten seither keine Fortschritte mehr. Sie versuchten sich zu beruhigen, indem sie sagten: Das sind ja alles nur Tests auf dem Weg an die EM, da werden wir dann bereit sein. Sie waren es nicht.
Die Sinnestäuschungen von Ottmar Hitzfeld
Köbi Kuhn trat als Coach ab, «endlich», sagten viele seiner Kritiker. Ottmar Hitzfeld kam, und weil er von einer Zeitung als «Messias» angekündigt wurde, wollte er zurücktreten, bevor er angefangen hatte. Er warnte vor zu grosser Euphorie und wurde dennoch kaum gehört. Er feierte zum Debüt das 4:1 gegen Zypern und freute sich über den Konkurrenzkampf, der aufgefrischt sei. Es war seine erste Sinnestäuschung, aber nicht die letzte.
Weiter ging es am Samstag vor einer Woche beim 2:2 in Israel, als seine Verteidiger eine 2:0-Führung auf eine Art verspielten, wie er das nicht glauben konnte. Erst recht täuschte er sich vor dem Spiel gegen Luxemburg. Am Vortag sagte er noch: «Ich habe keine Befürchtung, dass die Spieler den Gegner unterschätzen. Dafür ist ihr Charakter zu stark. Ich habe selten eine Mannschaft gehabt, die so engagiert ist und so zusammenhält.» Derweil posierte Gökhan Inler für den «Blick» und deutete den Biss in eine Handvoll Luxemburgerli an. Als wären die Luxemburger auch auf dem Fussballplatz einfach zu vernaschen.
Hitzfeld war aufgebracht, als er Inlers Bild sah. Er glaubte dennoch weiterhin ans Gute, verliess sich auf sein Gefühl, die Spieler inzwischen besser beurteilen zu können. Er baute auf Ludovic Magnin, Tranquillo Barnetta und Alex Frei, obwohl es Gründe gab, keinen von ihnen einzusetzen. Magnin ist nicht Stammspieler im Klub, wie Hitzfeld das von allen fordert, Barnetta war in Israel neben sich gestanden, und Frei kam ohne Ernstkampf von einer Verletzung zurück.
Die Selbstkritik - und warum Frei nicht gleich «losbellt»
Aber im Letzigrund musste der Trainer mit ansehen, wie wenig Verlass auf sein Gefühl und seine Entscheide war. «Ich war eine Null», gab Magnin zu. Was für ihn galt, traf auf Barnetta und Frei und viele andere zu. Hitzfeld coachte auch während des Spiels nicht mit glücklicher Hand. Selbstkritisch sagte er: «Meine Massnahmen brachten nicht den Sieg, den alle und auch ich erwartet hatten. Also können sie nicht richtig gewesen sein.»
Die Leistung der Mannschaft war unterirdisch, so schlecht, wie das niemand für möglich gehalten hätte. Verbandspräsident Ralph Zloczower zum Beispiel hatte vorher entgegen seiner Gewohnheit davon abgesehen, sich mit dem «Worst-Case-Szenario» zu befassen. Denn an eine Niederlage hatte er «nicht im Traum» gedacht und nicht einmal an die Möglichkeit eines Unentschiedens. Während des Spiels glaubte er trotz aller Unzulänglichkeiten: «Denen drücken wir noch einen rein.» Aber dann liessen sich die Schweizer von einem simplen Freistosstrick der Luxemburger erwischen und erhielten in der 86. Minute das 1:2. Es war schon die 12. Niederlage im 22. Match seit Oktober 2006.
Zloczower schlief die ersten Nächte nach diesem Albtraum schlecht. Noch am Freitagmorgen fragte er sich: «Ist das wahr?» Alex Frei sagte gleich nach dem Schlusspfiff: «Es ist Zeit, dass wir erwachen.» Am Donnerstag fügte er bei: «Jetzt müssen wir die restlichen Spiele mehr oder weniger alle gewinnen.» Seither mag er zur Lage der Fussballnation nichts mehr anmerken: «Es hat nichts damit zu tun, dass ich als Captain nicht hinstehen und reden will. Als Captain kriege ich ohnehin am meisten auf den Deckel. Aber manchmal ist es gut, wenn man nicht gleich losbellt, sondern die Klappe hält und Leistung zeigt.» Vielleicht will er nächste Woche mehr sagen.
Das Beispiel Aserbeidschan und seine Folgen
Der Schock über diese Niederlage sitzt tief. Und was die Folgen sein können, zeigt ein Blick zurück. 1996 startete die Schweiz unter dem neuen Coach Rolf Fringer in Aserbeidschan zur WM-Qualifikation, gegen «bessere Strandfussballer», wie sich Fringers Vorgänger Artur Jorge abfällig geäussert hatte. Sie verlor 0:1 und kam nie darüber hinweg. Fringer war als Nationaltrainer gescheitert, bevor er richtig angefangen hatte. «Ich trage den Stempel Baku und werde ihn nicht mehr los», sagt er heute.
Jetzt kommt Hitzfeld die zweifelhafte Ehre zu, für die schwerste Schweizer Niederlage verantwortlich zu sein. Ausgerechnet er, der Erfolgstrainer. «Hitzfeld und die Schweiz», schrieb Fringer am Freitag im «Tages-Anzeiger», «das kommt mir ein bisschen vor, als würde man im Smoking zum Grillieren gehen. Es wirkt etwas overdressed.»
Hitzfeld am falschen Ort? Zu gut für bescheidene Schweizer, zu verwöhnt vom personellen Angebot bei Bayern München? Am Mittwoch war er zumindest einmal im falschen Film. Fortan wird er auf immer und ewig mit dem Schweizer Waterloo in Verbindung gebracht. Zuspruch erhält er von Rolf Fringer: «Er ist ein Trainer, der aufgrund seiner Erfahrung und Persönlichkeit alles gut verarbeiten kann.»
Vier Wochen muss Hitzfeld aufs nächste Spiel warten. «Das ist der einzige Grund, weshalb ich bereue, nicht mehr Vereinstrainer zu sein», sagte er. Wusste um die Sprengkraft seiner Worte und korrigierte sofort: «Nicht, dass jetzt ein falscher Eindruck entsteht. Ich bin sehr gerne Nationalcoach, die Aufgabe reizt mich, besonders jetzt.»
Freis Versprechen: «Champions stehen wieder auf»
In vier Wochen geht es gegen Lettland. Es wird ein Nervenspiel für die Schweizer wie schon sehr, sehr lange keines mehr. Vier Tage später müssen sie zu Gruppenleader Griechenland. Und wenn sie auch danach nur einen Punkt hätten, sagt Zloczower, «dann können wir aufhören». Dann ist die WM wohl unerreichbar fern.
Als er sich an der EM verletzt hatte, sagte Frei: «Manchmal fällt man im Leben hin. Man kann liegen bleiben oder kämpfen und wieder aufstehen. Champions stehen auf. Ich werde wieder stark sein. Wie ein Champion.»
Einen ersten Schritt hat er gestern in Dortmund gemacht. Und Hitzfeld wird sich fragen: Warum hat sein Captain damit nicht schon am Mittwoch angefangen?
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