Alles, nur kein Liederabend
Vincenzo Capezzuto war ein international erfolgreicher Tänzer – bis er beschloss, Sänger zu werden. Seither macht er Furore mit einer Stimme, die in keine Schublade passt.

Nachtessen mit der Familie, im Hintergrund läuft die CD «Mediterraneo» des Ensembles L'Arpeggiata. «Wer singt hier?», fragt man bei der «Pizzica di San Vito». «Eine Frau», antwortet die Tochter. «Nein, ein Kind», weiss der Sohn. «Also wenn du so fragst, ist es bestimmt ein Mann», sagt der Mann. Einig sind sie sich nur in einem: Wer immer hier singt, ist ein Phänomen.
Nun sitzt man diesem Phänomen in einer Zürcher Hotellobby gegenüber: Vincenzo Capezzuto, 39 Jahre alt, bestens gelaunt. Vor sich hat er einen Caffè americano, «seltsam für einen Italiener, ich weiss».
Aber er entspricht den Klischees ja auch sonst nicht – und ist froh darüber. Dass seine Stimme «nicht wirklich klassifizierbar» sei, sieht er jedenfalls als Glück. «Es gibt mir Freiheit», sagt er mit einer Sprechstimme, die ebenfalls auffallend hoch ist. Anders als Countertenöre erreicht Capezzuto auch hohe Lagen, ohne ins Falsett zu wechseln. Und dies mit einer Leichtigkeit, einer Reinheit, einer Kraft, die einen immer wieder von neuem verblüfft.
Musik gegen Tarantelgift
Auch ein paar Stunden nach dem Gespräch wieder. Da tritt Capezzuto mit L'Arpeggiata im Zürcher Grossmünster auf, und klar, die «Pizzica di San Vito» darf nicht fehlen. Es ist eine Paradenummer, nicht nur für den Sänger, sondern auch für das Ensemble, das einen ganz eigenen Groove entwickelt hat.
Ensemblegründerin Christina Pluhar treibt mit der Theorbe die Bassgruppe an, Geige und Zink nutzen ihre improvisatorischen Freiheiten, der Organist wechselt ans Tamburin. Und Vincenzo Capezzuto singt, dass man unwillkürlich mitwippt: Schliesslich ist das Stück ein Tanz, der nach dem süditalienischen Volksglauben dabei helfen soll, nach einem Tarantelbiss das Gift auszutreiben.
Vor allem aber ist der Sänger tatsächlich ein Tänzer. Schon als Kind habe er ständig getanzt und gesungen, sagt er. Und seine Eltern, die beide im Spital arbeiteten, aber aus Musikerfamilien stammen, haben sein Talent bald bemerkt. Mit 10 Jahren begann er die Ballettausbildung am Teatro San Carlo in Neapel, eineinhalb Busstunden entfernt von Salerno, wo die Familie lebte. «Il canterino» nannte man ihn an der Schule, weil er neben dem Tanzen immer sang.
Nach der Ausbildung trat er als Primoballerino in Neapel auf, beim English National Ballet, im Aterballetto von Reggio Emilia. Er tanzte in Choreografien von William Forsythe oder Alvin Ailey – bis das Singen doch in den Vordergrund rückte. Er hat dann Stunden genommen, wollte sich mit Spezialisten konfrontieren. Aber diese korrigierten nur Kleinigkeiten; «es war da schon klar, dass ich meine eigene Art habe». Als wichtigsten Gesangslehrer nennt er deshalb den Tanz: «Das Körpergefühl, der Atem – das kommt alles von dort.»
Ohne Frack und Noten
Nur Notenlesen musste er lernen, «die Partitur war ein sehr seltsames Objekt für mich». Sie ist es immer noch, er braucht sie nur beim Üben und legt sie dann wieder weg. Manchmal habe er ja versucht, mit den Noten in der Hand zu singen, «aus Solidarität mit den Kollegen». Aber es geht nicht, er braucht Bewegungsfreiheit auf der Bühne: um den Rhythmus aufzunehmen, um mit einer Geste den Text zu unterstreichen. Oder auch mal für ein paar Tanzschritte.
«Das Körpergefühl, der Atem – das kommt alles vom Tanz.»
Wenn man ihn so sieht im Konzert, versteht man auch seine Abneigung gegen den klassischen Liederabend. Ein Flügel, ein Sänger im Frack, grosse Ernsthaftigkeit: «Das ist das Gegenteil von dem, was ich will.» Darum tritt er so gern mit den experimentierfreudigen Kollegen von L'Arpeggiata auf. Und darum hat er 2011 zusammen mit dem ebenfalls vielseitig begabten Claudio Borgianni auch noch eine eigene Truppe gegründet: Soqquadro Italiano heisst sie, weil Capezzuto das Wort mit den beiden q ebenso mag wie seinen Sinn. «Mettere a soqquadro» heisst «durcheinanderbringen».
Als Zugabe gibts «Imagine»
Seither haben die Soqquardisten so einiges durcheinandergebracht. Sie haben Musik, Tanz und Videos kombiniert, historische Instrumente und Elektronik verkoppelt, Monteverdi mit Mina verbunden – und Schubert-Freunde erschreckt mit einem Liederprogramm, in dem auch ein Saxofon oder ein Toy-Piano zum Einsatz kommen. Capezzutos Stimme bricht den traditionellen Schubert-Klang ja sowieso, «und wir wollten den Geist der Schubertiaden in die heutige Zeit holen: das gemeinsame Musizieren mit Freunden».
Auch das Publikum bezieht der Soqquadro Italiano ein in diesen Kreis, mit dreitägigen Festivals, in denen Zuhörer und Musiker italienische Städte erkunden, Konzerte erleben, zusammen essen. Capezzuto schwärmt von diesem «musikalisch-touristischen Gesamtpaket», er mag den direkten Kontakt.
Und findet ihn auch im Grossmünster. In den volksmusikalischen Stücken, aber auch in John Lennons «Imagine», das er mit der Sopranistin Céline Scheen als Zugabe singt (weil das Konzert im Rahmen von «Armistice Suisse» zum Gedenken ans Ende des Ersten Weltkriegs stattfindet). Und dann gibts noch einmal die «Pizzica di San Vito» – diesmal als Rap.
Dieser Sänger sei ja wirklich ein Phänomen, sagt eine Frau beim Ausgang. Eben.
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