Alles schön unaufgeregt hier
Ein Turnfest ist nicht jedermanns Sache. Das gilt besonders für Leute aus der Stadt. Unser Autor war am kantonalen Turnfest im Tösstal.
Ein Turnfest zu besuchen, ist für viele Städter etwa so abwegig wie ein Spaziergang auf dem Mond. Die Unkenntnis ist entsprechend gross. Vorurteile dagegen gibt es viele: Fahnenmeere, Vereinsmeierei, Würste, Schlager, Saufgelage. Vorweg: Sie lassen sich leichtestens bestätigen am Kantonalen Turnfest in Rikon im Tösstal an diesem Wochenende. Und doch tritt beim Augenschein vor Ort noch einiges anderes zutage. Von vorne.
Schon nach zehn Minuten Zugfahrt erreichen die Fest-Besucherinnen und -Besucher von Winterthur aus den Bahnhof Rikon. Gleich hinter dem Wartehäuschen beginnt die grüne Landschaft. Oder besser: würde sie beginnen. Denn während zwei Wochen ist diese 18 Hektar grosse Gebiet der Ausstragungsort «des grössten Anlasses, der im Tösstal je stattgefunden hat», wie es die Zeitungen schreiben. Zweieinhalb Jahre Vorbereitungszeit waren nötig, bis das Fest am vorletzten Freitag schliesslich mit einem Gottesdienst hat eingeweiht werden können.
So sähe Freizeitgestaltung aus, hätte man dem Vereinsleben damals nicht den Rücken gekehrt.
Zum Höhepunkt des Turnfestes am nächsten Wochenende erwarten die Rikoner an die 30'000 Gäste auf ihrem Gemeindegebiet, was knapp dem 30-fachen der Einwohnerschaft entspricht. Es besteht auf den ersten Blick aber kein Zweifel, dass die Organisatoren und die 3000 freiwilligen Helfer dafür gewappnet sind. «Töss-tastisch» steht auf Flyern und Shirts. Sie nehmen auch gleich die Stimmung vorweg.
Vom Bahnhof aus geht es in der sengenden Nachmittagshitze der Töss entlang, den Weg weisen Handwerksarbeiten der ansässigen Primarschule. Über eine mit EKZ-Werbung behangene Brücke erreicht man schliesslich das Festgelände. Man betritt nun jene mit Holz beschlagenen Wege, die durch das noch etwas leere Gelände führen. Jugendliche sitzen im Kreis. Es herrscht eine Art Jugend-und-Sport-Atmosphäre vor, die den meisten in der Schweiz aufgewachsenen Menschen bekannt sein dürfte. So sähe Freizeitgestaltung aus, hätte man dem Vereinsleben damals nicht den Rücken gekehrt, denkt nun der eine oder andere Städter.
Es sind übrigens nicht wenige, die dabei geblieben sind: 63'000 Mitglieder zählt der Zürcher Turnverband – er ist damit der grösste kantonale Verband der Schweiz. Tendenz eher abnehmend, wie der Präsident Frank Günthardt sagt. In den letzten zehn Jahren schrumpfte der ZTV jährlich um ein bis zwei Prozent. Als Begründung nennt Günthardt jene Senioren, die in den Ruhestand treten. Im Segment der Jungen dagegen zeigt die Kurve leicht nach oben. So oder so, die kantonalen Zürcher Turner sind eine gewichtige Grösse, in den Cafés und Bars der Stadt Zürich weiss allerdings niemand davon (ausser vielleicht die Mitglieder der beinahe zwanzig innerstädtischen Turnvereine).
Schweizerische Unaufgeregtheit
Was sich hier auf diesem weitläufigen Gelände nun vor einem auftut, ist jenes Grossereignis, auf das die Turner seit sechs Jahren hinturnen. Auf dem Festgelände ist dies vorerst auszumachen. Schweizerische Unaufgeregtheit auf den Tribünen wie auch an den Festbänken. Untermalt manchmal, ja, von Ländlerkappellen oder Alphornbläsern. Dann und wann klatscht es von der Tribüne, manchmal schallt ein Jubel durch die Sportzelte, ansonsten eine Stimmung wie beim Samstagjass, was bei Anlässen solcher Grösse ansonsten undenkbar wäre.
Doch die Zürcher Turner sind gut. Dies zeigen die Zahlen: Derzeit stellt der Zürcher Verband einen Viertel der Schweizer Nationalmannschaft – und das soll auch so bleiben, wenn es nach dem Präsidenten geht. Mindestens. Die Erfolge der Kunstturnerin Giulia Steingruber oder der Kunstturner Eddy Yusof und Marco Rizzo zeigen, dass diese niedertourige Stimmung auf dem Festgelände eine typische Art von Schweizer Understatement ist.
Anderes als den Schweizer Dialekt gibt es auf dem Festgelände fast nicht zu hören
«Hammer!», sagt der OK-Präsident und Gemeindevorsteher von Wila, Hans-Peter Meier. Er ist ein Mann mit festem Händedruck und professioneller Ausstrahlung. Durchs Gelände führt er zwei Meter vorausgehend. Manchmal klopft er beim Vorbeigehen auf eine der zahlreichen Holzkonstruktionen, die das Bild des Festes dominieren. Alles solide. Wie das Fest selber. Die Feedbacks seien bisher nur positiv gewesen, ein paar kleine Justierungen noch, ansonsten einwandfrei.
Anderes als den Schweizer Dialekt gibt es auf dem Festgelände fast nicht zu hören – ganz im Gegensatz zu den Fussball-Grümpelturnieren. Der Verbandspräsident Günthardt ist sich der homogenen Zusammensetzung der Turnvereine bewusst. Und sagt, dass er sich eine Durchmischung wünschte. Als Massnahme möchte man Secondos, die vom Unterricht her die Disziplinen kennen, früh an die Turnvereine binden. «Ich weiss, dass wir ein konservatives Image haben», sagt er. Das hat mit der Vergangenheit zu tun. Bilder von Massenturnern in einheitlichen Dresses – als Ausdruck von Wehrhaftigkeit – sind in der Bevölkerung noch präsent. «Wir sind heute traditionell und modern zugleich», präzisiert Günthardt.
«Gewinner der Herzen»
Man schlendert nun noch etwas durch die Sonne, vorbei an Sackhüpfwettkämpfen oder dem Gummstiefel-Weitwurf, auf der Rasen-Kreisbahn messen sich gerade junge Athleten. Vielleicht gönnt man sich noch einen Pulled-Pork-Burger oder ein Bier von der mobilen «Tankstelle» mit integrierter Soundanlage.
Beim Spaziergang kreuzt man später den Zeltplatz, auf dem vor einem Wohnwagen mit Traktor ein gewaltiger Boxenturm vibriert. «Gewinner der Herzen», steht darauf geschrieben. Der Sport macht eben nur einen Teil des Turnfestes aus. Der andere ist die Party. Bald wird in Wein-, Bier- und BBQ-Zelt die Nacht hindurch gesoffen – ganz genauso wie an der Langstrasse zu dieser Zeit.
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