Alles wird gut
Von «Republik» bis Red Bull: Alle wollen mehr Fakten, mehr Wahrheit im Journalismus. Aber welcher Verleger findet den Weg hinaus aus der eigenen Blase?

Dass es Constantin Seibt die Sprache verschlägt, kommt selten vor. Vor zwei Wochen passiert es aber doch. In einer zur Beiz umgewandelten Werkstatt an der Zürcher Langstrasse steht der ehemalige «Tages Anzeiger»-Journalist und Neuverleger auf kleinem Podium und stammelt ins Mikrofon, dass er seine «ganz, ganz schlechte Rede» jetzt abbreche und lieber arbeiten gehe. Das Publikum jubelt.
In diesem Moment haben alle Anwesenden das Gefühl, Geschichte geschrieben zu haben. Innert 12 Stunden hat das Genossenschaftsprojekt Project R über eine Million Franken von 5000 zukünftigen Abonnenten gesammelt. Bis heute sind es über 11 000 Mitglieder, die 2,8 Millionen Franken in ein Onlinemagazin investieren, von dem sie kaum mehr wissen als den Namen: «Republik».
Ihr Antrieb ist Hoffnung, geweckt durch eine lange geplante und exzellent ausgeführte Werbekampagne. Die «Republik» verspricht die journalistische Revolution gegen die Mächte der Finsternis: gegen Christoph Blocher und seine Vollstrecker bei «Weltwoche» und «Basler Zeitung», gegen den Sparkurs der grossen Zeitungsverlage, gegen Fake-News und seine Verursacher.
Das Pathos des Gründungsmanifests und die auf der Website veröffentlichten Fotos der Spender samt Statements – «Alles wird gut!» – brachten dem Projekt auch Spott und Häme ein: Dieser Erlöser-Topos sei doch aus dem US-Wahlkampf bekannt, stellt die «NZZ am Sonntag» die «Republik» auf eine Ebene mit Donald Trump. Doch wenn sie die Kampagne von Project R als «nette kleine Werbelüge» abtut, begeht sie denselben Fehler wie die US-Medien im vergangenen Herbst: Sie unterschätzt den Frust der Zielgruppe und deren Bedürfnis nach neuen Medien, die den Wandel vertreten, Glaubwürdigkeit ausstrahlen – und Wahrheit verkünden.
Hier gut, dort böse
Das vergangene Jahr war ein Krisenjahr für die Medien, voller Fehleinschätzungen und viral verbreiteter Falschmeldungen. Marcel Salathé, Kommunikationswissenschafter und Biologe an der Universität Genf, fühlte sich in dieser Krise «wie im luftleeren Raum: Wir konnten uns nirgends mehr festhalten». Salathé gehört zu den ersten, die Project R unterstützten. Er hält es für möglich, «dass wir die Entstehung einer neuen Bewegung erleben».
Auch der Historiker Alexis Schwarzenbach fühlt sich nun «nicht mehr so hilflos», seit er Project R unterstützt. Schwarzenbach hält die traditionellen Medien kaum noch für fähig, ihre Funktion auszuüben. Deshalb brauchte er nicht lange zu überlegen, «weil ich auf so etwas wie die ‹Republik› gewartet habe». Und der freisinnige Publizist Ulrich Gut schliesslich spürt einen «Energieschub», der durch die Bevölkerung gehe und auch das liberale Bürgertum erfasse, das die «mediale Dominanz der Nationalkonservativen» satthabe.
«Die Wahrheit ist heute wichtiger denn je.» Mit dieser Kampagne wirbt die «New York Times» seit Februar. Es ist eine höchst umstrittene Werbung, denn von Wahrheit sprechen alle, der Mann im Weissen Haus genauso wie die Pegida-Demonstranten auf Deutschlands Strassen. Seit kurzem gehört auch ein milliardenschwerer Dosengetränkeproduzent dazu. Dietrich Mateschitz, Miteigentümer von Red Bull, gründete in Österreich die Stiftung Quo vadis veritas. Sie wird eine Rechercheplattform finanzieren, die Fakten als «Grundlage für eine qualifizierte, ruhig auch kontroverse politische und gesellschaftliche Debatte» liefern soll.
Quo vadis veritas wurde etwa zeitgleich zu Project R vorgestellt und kann als Gegenmodell verstanden werden: Gesteuert von einem Einzelnen, der das Projekt jederzeit einstellen kann. Die Frage «Wohin gehst du?» im Stiftungsnamen klingt bizarr, denn Mateschitz tut in einem seiner seltenen Interviews so, als hätte er die Wahrheit gepachtet. Er kennt alle Probleme (die Flüchtlinge, die hohen Steuern), er kann die Schuldigen nennen (die Politik, die Gutmenschen, die Flüchtlinge). Und so wie der rote Bulle denkt, berichtet auch sein Sender «Servus TV»: Hier gut, dort böse. Schwarz und weiss. Damit holt sich der Sender viel Applaus von ganz rechts und kann die Zuschauerzahlen steigern. Aus der Blase findet er jedoch nicht hinaus.
«Die Wahrheit ist schwer zu finden», bewirbt die «New York Times» ihr Rezept gegen Fake-News: Fake mit Fakten kontern, die Zahlen auf den Tisch legen. «Ich hätte einen anderen Spruch gewählt», entgegnet Rob Wijnberg, Chefredaktor des niederländischen Onlinemagazins «De Correspondent»: Journalismus, sagt Wijnberg, brauche nicht noch mehr Faktenchecks, sondern mehr Ehrlichkeit der Journalisten. Sie sollten zu ihren Werten und Haltungen stehen und in den Dialog mit den Lesern treten. Das ist eine ganz ähnliche Sicht auf die Wahrheit, wie sie der Chefredaktor der NZZ, Eric Gujer, vor der Generalversammlung formulierte: «Ein stetes Ringen um Positionen im Wissen darum, dass niemand ausschliesslich im Besitz der Wahrheit ist.»
In der bürgerlichen NZZ findet dieses Ringen redaktionsintern statt. Die Leser bekommen nur das Ergebnis zu sehen. Beim eher linken holländischen Crowdfunding-Projekt können die Abonnenten mit um die Wahrheit ringen. Sie sind in das Entstehen einer Recherche eingebunden, sie können Tipps geben oder Thesen widersprechen. Alles fliesst in das Ergebnis ein. «De Correspondent» wird von Project R als grosses Vorbild gelobt. Und die Holländer schicken einen grossen Blumenstrauss als Gratulation an die Zürcher Langstrasse.
«Es bleibt ein Nischenprodukt»
So wie Project R wurde «De Correspondent» von erfahrenen Journalisten gegründet, die mit ihrem Arbeitsumfeld unzufrieden waren. So wie die Schweizer setzten die Holländer auf Crowdfunding und holten ihre erste Million aus der Bevölkerung, lange bevor ihr Magazin online ging: mit geschicktem Marketing, wortgewaltigem Manifest und der Hilfe von Prominenten. Heute hat das Onlinemagazin knapp 60 000 Abonnenten, die mindestens 60 Euro pro Jahr zahlen. Die Bezahlschranke ist durchlässig: Wenn Abonnenten Geschichten in Sozialen Medien teilen, können sie dort kostenlos aufgerufen und weiterverbreitet werden.
Etwa die Hälfte ihrer Arbeitszeit verbringen die Journalisten bei «De Correspondent» mit der Betreuung ihrer Foren in den sozialen Medien oder in direktem Kontakt zu den Abonnenten. Das kann Recherchen unterstützen, denn «tausend Lehrer wissen über Bildung eben mehr als ein Korrespondent», sagt Redaktorin Maaike Goslinga. Aber letztendlich ist es auch Marketing.
Mark Deuze, Professor für Journalismus in Amsterdam, sieht darin allerdings einen unlösbaren Widerspruch des Crowdfunding-Modells. Gerade jene, die den Journalismus in seiner reinen Form retten wollen, lösten am schnellsten die Trennung von Redaktion und Werbeabteilung auf: «Im Mittelpunkt steht nicht der Newsroom, sondern IT-Techniker und Community-Manager.» Es ist eine Frage des Überlebens: Die Konkurrenz um Spendengeld wird härter, die Spender allein mit guten Geschichten zu halten, ist schwer.
«Das Problem prekärer Arbeitsverhältnisse löst Crowdfunding nicht.»
In einem weiteren Punkt sieht Mark Deuze Crowdfunding-Medienprojekte schon dort, wo die grossen Medienhäuser hindrängen: Feste Anstellungen sind Mangelware, die Arbeit erledigen meist Freelancer, die von ihren Hungerlöhnen auch noch Versicherungen zahlen müssen. Crowdfunding löse das Problem prekärer Arbeitsverhältnisse nicht, «es verstärkt es noch». Deuze bezeichnet sich als «grossen Fan» von «De Correspondent» und ist dennoch enttäuscht. Das Onlinemagazin erreiche nicht einmal die Grösse einer kleineren Regionalzeitung: «Es bleibt ein Nischenprodukt für die gut ausgebildete urbane Mittelschicht der Hauptstadt.»
In der Schweiz zweifelt der ehemalige Chefredaktor von «20 Minuten online» und Gründer von «Watson», Hansi Voigt, am Erfolg von ausschliesslich schwarmfinanzierten Medienprodukten. Voigt arbeitet deshalb an einer offenen Plattform, die Onlinemedien die Infrastruktur bereitstellen soll, ähnlich wie eine vom Staat gebaute Autobahn oder die staatliche Schieneninfrastruktur für private Bahnbetreiber. Ohne diese Serviceplattform, sagt Voigt, sei Journalismus nicht mehr zu finanzieren. Dabei brauche die Schweiz nicht ein Projekt Republik, «wir brauchen ganz viele Republiken, für jede Region eine». Vorerst empfiehlt Voigt den Republikanern, etwas Pathos aus der Kampagne zu nehmen: «Von 11 Journalisten eine Revolution im Journalismus zu erwarten, ist eher ein Witz.»
In Deutschland seien userfinanzierte Medienprojekte schon froh, wenn sie die Mittelschicht erreichten – und dann halten könnten. Die Plattform «Krautreporter» startete sehr selbstbewusst mit der Analyse, dass der Onlinejournalismus kaputt sei, und dem Versprechen: «Wir kriegen das wieder hin.» Das war eine ganz ähnliche Diagnose, wie sie heute das Schweizer Project R mit viel mehr Worten und Pathos stellt: Das System versagt, wir bringen das in Ordnung. Bloss war die anfängliche Euphorie bei den Finanziers der Krautreporter bald wieder verschwunden. Die Mitgliederzahl sank innert eines Jahres von 17 000 auf etwa 5000.Strukturanpassungen wurden notwendig. Man ersetzte den Autorenpool durch eine feste Redaktion und gründete eine Genossenschaft, wo 350 Mitglieder bisher 150 000 Euro investierten. Nach zweijährigem schmerzhaftem Lernprozess stehen die Krautreporter jetzt da, wo Project R beginnt. Was nicht bedeuten muss, dass sich die Schweizer Lernprozesse ersparen.
Das Geschäftsmodell anpassen
Webunternehmer Hannes Gassert kennt viele Start-ups, aber keines, das nach dem Start nicht bald sein Businessmodell anpassen musste. Der Weg sei vorgezeichnet: von der Höhe der Euphorie ins Tal der Tränen und schliesslich «auf das Plateau der Produktivität». Gassert ist vom Projekt der Republik dennoch so überzeugt, dass er an jenem Mittwochmorgen mit grünen und roten Nationalräten im Regen wartete, bis er seine Mitgliedschaft bezahlen durfte. Crowdfunding sieht er mit diesem Tag «in der Schweiz im Mainstream angekommen».
Kultstatus hat Project R mittlerweile unter deutschen Schwarmfinanzierern. In ihrer Bubble werde der Erfolg eifrig diskutiert, sagt Pauline Tillmann in Berlin: «Alle reiben sich die Augen, dass in der Schweiz so viele Leute so viel Geld für so ein Projekt ausgeben.» Tillmann hat selbst eine Plattform gegründet. «Deine Korrespondentin» ist ein digitales Magazin, in dem Korrespondentinnen aus verschiedensten Ländern Geschichten von interessanten Frauen erzählen. Thematisiert werden auch Arbeitsbedingungen für multimediale Journalistinnen: Das schaffe Transparenz und «wirkt der aktuellen Glaubwürdigkeitskrise der Medien entgegen».
Tillmann organisiert die Seite praktisch alleine, das erste Crowdfunding brachte 6500 Euro, damit konnte sie einen Programmierer finanzieren. Die zweite Kampagne soll mit 1200 Euro monatlich den Betrieb sichern. Mindestens einmal am Tag schaut sie auf die Website von «Republik», wie dort die Zahlen der Spenden und Mitglieder nach oben klettern. Sie findet das spannend. Neidisch sei sie den Schweizern nicht: «Diese Welle der Sympathie für so ein Projekt ist auch für uns total ermutigend.»
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