ZoomAlltag, wo keiner ist
Der Fotograf Sebastian Sele berichtet von Bord des Seenotrettungsschiffs Ocean Viking, das zwischen Libyen und Lampedusa unterwegs ist.

Die längste Zeitdauer, die ich zuvor auf einem Schiff verbracht hatte, waren zwei Stunden. Nun sollten es also vier Wochen sein – auf einem Seenotrettungsschiff mit 69 Metern Länge, 15 Metern Breite und null Privatsphäre. In dieser Zeit wird die 25-köpfige Crew der Ocean Viking von SOS Méditerranée 129 Menschen aus Seenot retten. Sie werden als Überlebende in die Statistik einfliessen, anders als die über 23’000 Menschen, die seit 2014 im Mittelmeer ertrunken sind.
Ich möchte aus erster Hand erfahren, was zwischen Libyen und Lampedusa passiert – und wieso an der Aussengrenze Europas, dessen Länder in Frieden zusammenleben, überhaupt solche Statistiken entstehen können.




Noch nie zuvor habe ich in so kurzer Zeit so viele Gespräche über traumatische Erfahrungen geführt. Ein Mann aus Nigeria sagt mir: «Die Reise übers Meer ist wie Suizid zu begehen, ohne sterben zu wollen.» Alle, die auf der Ocean Viking sind, haben Extremsituationen durchlebt. Die Geretteten im bürgerkriegsgeplagten Libyen und die Retter hier auf dem Meer. Immer wieder sind sie gezwungen, zu entscheiden, wer überlebt und wer stirbt. Sinkt eines der überfüllten Schlauchboote, geht es für sie bloss noch darum, so viele Menschen wie möglich an Bord des Seerettungsschiffs zu holen – ohne die eigene Sicherheit zu gefährden.



Zwischen diesen oft traumatischen Erlebnissen wird versucht, einen Alltag zu simulieren. Ein Tagesprogramm soll Struktur geben. Ein spezieller Container soll Frauen und Kindern Schutz bieten. Die Flüchtlinge erhalten regelmässig zu essen, sie tanzen, es werden Haare geschnitten – und alle auf dem Schiff hoffen, dass das alles bald ein Ende findet.








Nach fast einer Woche auf hoher See ist es dann so weit: Die Ocean Viking erhält die Erlaubnis, auf Sizilien anzulegen. Es wird geklatscht. Das Meer haben diese Flüchtlinge überlebt. Jetzt erwartet sie das europäische Asylsystem.
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