Chancenlose LeverkusenerAls der Wahnsinn über Seoane hereinbricht
Es ist alles angerichtet für ein grosses Spiel in der Bundesliga – am Ende setzt es für Bayer Leverkusen und seinen Trainer eine deftige Lektion ab: Sie unterliegen Bayern München daheim 1:5.

Vorher gibt es bei Bayer Leverkusen nur strahlende Gesichter. «A hell of a game», erwartet Lukas Hradecky, der ausgesprochen wortstarke Captain, «ganz tolle Affiche, voller Vorfreude», sagt sein Trainer Gerardo Seoane. Knapp 30’000 Zuschauer drängen ins Stadion in einer Stadt, die ausser den Werken des Chemie- und Pharmariesen Bayer nur noch den Fussball zu bieten hat.
Der FC Bayern macht die Aufwartung an diesem Sonntagnachmittag, der Zweite der Bundesliga beim punktgleichen Dritten, dem er für seine bisherigen Leistungen viel Respekt entgegenbringt. Wenn der FC Bayern kommt, ist überall im Land die Stimmung wie elektrisiert, niemand hat mehr Freunde und Gegner als der Rekordmeister.
Es wird auch ein Spiel, wie es Hradecky vorausgesagt hat, ein Wahnsinnsspiel. Aber aus seiner Sicht hat es einen entscheidenden Makel: Ihm und seinen Teamkollegen bleibt nur die Statistenrolle, als die Bayern eine erste Halbzeit hinlegen, die phasenweise sprachlos macht. 5:0 liegen sie zur Pause vorne. Das Erstaunliche daran ist: Sie führen nicht einmal zu hoch, sie haben Chancen zu einem «sechsten, siebten, achten Tor», wie Trainer Julian Nagelsmann bemerkt. Und auch noch zu einem neunten oder zehnten.
Lewandowskis Hackentrick
Als Nagelsmann hinterher zur Analyse schreitet, tönt es komisch, wenn er von den ersten paar Minuten berichtet. Da hätten sie nicht so den Zugriff gehabt, sagt er, mit Zugriff meint ein Trainer die Kontrolle übers Spiel und den Gegner. Komisch tönt das vor allem, weil seine Mannschaft da schon in Führung liegt. Robert Lewandowski hat mit einem Hackentrick getroffen.
Für den Polen ist es das erste Goal, nachdem er in zwei Bundesliga- und zwei Länderspielen nicht erfolgreich gewesen ist. Einzelne Journalisten haben ihm das schon vorgerechnet, er hält dagegen: «Habt ihr die Trainings auch mitgerechnet?» Nagelsmann sagt: «Auch wenn er in der Bundesliga zweimal nicht getroffen hat, ist er der beste Stürmer der Welt.»
Seoane hat in seinen drei Erfolgsjahren bei YB nie etwas Vergleichbares erlebt. Den frühen Rückstand gegen Bayern nimmt er als «Nackenschlag» wahr. Seine Spieler sind deshalb gezwungen, offener zu spielen. Eigentlich ist das ihr Spiel, weil ihr Verein seit Jahren für offensiven und schönen Fussball steht. Patrik Schick, Moussa Diaby und Florian Wirtz sind aktuell die Namen, die das verkörpern: der tschechische Torjäger, der französische Wirbelwind und der 18-Jährige, den sie in Deutschland schon als Wunderkind sehen. Dass selbst Seoane von Wirtz schwärmt, soll etwas heissen. Er ist bei Wertungen sonst gerne um Zurückhaltung bemüht.

Dieses 0:1 aber bekommt den Leverkusenern nicht gut, weil sie zu viele Bälle zu leicht verlieren. Die Bayern dagegen kommen mit der Zeit ins Rollen. Und zwischen der 30. und der 37. Minute überfallen sie den Gegner gar wie eine Naturgewalt. Genau so lange brauchen sie, um aus dem 1:0 ein 5:0 zu machen. Joshua Kimmich fällt dazu ein Wort ein: «Gigantisch.»
Kimmich und Co. nutzen die Räume zu Konter- und Tempofussball. Dafür steht das 2:0 durch Lewandowski, das 4:0 und das 5:0 durch Serge Gnabry. Das dritte Tor fällt nach einem Corner, wie ihn die Bayern einstudiert haben. Dass am Ende der Aktion Thomas Müller steht und den Ball mit der Hinterseite des Oberschenkels noch ablenkt, ist dann für sie eben auch typisch – weil sie diesen Müller haben, der gerne einmal auf unorthodoxe Art erfolgreich ist.
Seoanes Kontrolle
Seoane nimmt das alles äusserlich unberührt hin. Mal hat er die Arme vor der Brust verschränkt, mal hat er die Hände tief in den Hosentaschen vergraben oder hinter dem Rücken gefaltet. Etwas anderes würde auch nicht zu ihm passen, weil er stets um Kontrolle bemüht ist.
Ob er nicht die Sorge gehabt habe, dass es noch schlimmer komme, wird er gefragt. «Diese Sorge hat ein Trainer immer», sagt er, «nach dem dritten Tor hoffst du, dass das vierte nicht fällt. Nach dem vierten hoffst du, dass das fünfte nicht kommt.» Als das fünfte dann gefallen ist, hat er sich nicht mehr viel vorgestellt.

In der Kabine fallen ein paar ernste Worte, so sagt Seoane das, er stellt das System um, damit seine Mannschaft fortan kompakter auftritt. Denn es soll ja nicht noch schlimmer werden. Die Leverkusener Zuschauer sind vorbildlich und tun alles, um ihren Spielern den Rücken zu stärken, so gut das in diesem Moment geht. Als Schick nach 55 Minuten ein Goal gelingt, bejubeln sie es ausgelassen. Irgendwann singen sie: «Steht auf, wenn ihr Leverkusen seid!»
Der Applaus der Fans
Als die Spieler schliesslich den Nachmittag überstanden haben, brauchen sie den Gang zum Publikum nicht zu scheuen. Sie werden nicht ausgepfiffen oder angepöbelt, nein, sie erhalten nochmals Applaus, als hätten sie gewonnen und keine Lektion kassiert. Zumindest die zweite Halbzeit haben sie gewonnen. Das liegt allerdings auch an den Bayern, die in erster Linie um Kontrolle bemüht sind und die Angelegenheit in einem kräftesparenden Modus zu Ende bringen. Chancen haben sie trotzdem auch jetzt noch, sie vergeben sie grosszügig, als wären sie von Mitleid erfasst.
«Nie deutscher Meister!», singen die Bayern-Fans noch vor der Pause so laut, dass es jeder Leverkusener hören muss, «ihr werdet nie Deutscher Meister!» Fürs Erste ist das auch nicht das Ziel, das Seoane und seine Chefs verfolgen, zuerst wollen sie eine Mannschaft aufbauen, die an der Spitze mithalten kann. Und an dieser Spitze sind die Bayern das Mass aller Dinge, gerade wenn sie Lust und Laune verspüren. «Sie gehören zu den Top 3, 4 oder 5 in Europa», sagt Seoane. Da kann es schon einmal vorkommen, dass eine Mannschaft gegen sie daheim 1:5 verliert.
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