Feldforschung in NepalAls Erstes half sie dabei, eine Braut zu stehlen
Hanna Rauber lebte einst ein Jahr lang mit den Händlernomaden Bhote-Khampa in der Region Far West Nepal. Nun hat die 80-jährige Zürcher Ethnologin ein Buch darüber geschrieben.

Als Hanna Rauber nach dreitägiger Wanderung am 5. November 1976 erstmals das Zelt eines Bhote-Khampa-Haushaltes betrat, war der Fachwelt über diese Händlernomaden nur gerade bekannt, was auf einem A4-Blatt Platz findet: Es handelt sich um eine kleine Tibetisch sprechende, schriftlose Gesellschaft, die in Nepal vom Tauschhandel lebt: Salz gegen Reis. Sie umfasst etwa tausend Personen in rund 170 Haushalten. Buddhisten in hinduistischem Umfeld.
Nun, 46 Jahre später, hat Hanna Rauber als 80-Jährige ein reich bebildertes Buch über die Bhote Khampa herausgegeben, mit denen sie damals ein Jahr lang lebte.
Turbulenter Einstand
Ihr Einstand war, so schien es der damals 34-jährigen promovierten Ethnologin, höchst unglücklich. Kaum hatte sie am Boden sitzend den ersten Schluck Buttertee getrunken, fragte sie ein junger Mann, ob sie eine Taschenlampe habe. Hatte sie – und übergab sie. Wozu man denn die brauche, fragte sie via ihren Übersetzer. «Um eine Braut zu stehlen», lautete die Antwort.
Hanna Rauber sitzt in der Bibliothek des Völkerkundemuseums und erzählt über die Anfänge ihrer Feldforschung in Far West Nepal, das heute zur Provinz Sudurpashchim gehört. Es war nicht nur geografisch ein weiter Weg dorthin, sondern auch biografisch: in Horgen aufgewachsen, Handelsdiplom, Bildhauerlehre bei Remo Rossi in Locarno, da sie realisierte, dass sie nicht für einen Bürojob geeignet ist.
Durch die Bildhauerei entdeckte sie ihr Interesse an Archäologie und Urgeschichte und machte deshalb auf dem zweiten Bildungsweg die Matura, um diese Fächer studieren zu können. Da ihr dann aber der enge Bezug zum Menschen fehlte, wechselte sie in die Ethnologie.

Nun sitzt die Ethnologin also in einem Zelt unter Menschen, die sie gastfreundlich aufgenommen haben, und hilft ihnen dabei, eine Frau zu stehlen. «Ich war entsetzt. In den ersten zehn Minuten meiner Feldforschung bot ich Hand zu so etwas.»
Sehr, sehr viel später erfuhr sie, dass es sich dabei nicht um Freiheitsberaubung, sondern um einen Befreiungsakt handelte. Eine in der Ehe unglückliche Frau konnte sich nämlich, wenn sie noch kein Kind geboren hatte, von einer ihr genehmen Familie stehlen lassen. Das war ein durchaus gängiger Weg, sich vom Zwang einer arrangierten Heirat zu lösen. Wobei das Unglück oft weniger vom Ehemann als von der allmächtigen Schwiegermutter ausging.

Hanna Rauber war seit 1970 verheiratet, und ihrer Schwiegermutter galt damals das tief empfundene Mitleid der Khampa-Frauen, da sie sich bei all den Frauenarbeiten so ungeschickt anstellte. Und dies trotz Pfadierfahrung, wie Rauber betont.
«Ich konnte keine am Fluss randvoll mit Wasser gefüllten Gefässe auf dem Kopf jonglieren, wusste nicht, welches Holz gut brennt, wie man Feuer ohne Zündhölzer entfacht oder einen guten Buttertee zubereitet.»
Sie wurde von Hütehunden gebissen und konnte mit den Ziegen und Schafen, dem eigentlichen Reichtum der Khampa, nicht umgehen. Als sie einmal darüber staunte, dass die Khampa alle Tiere ihrer Herde auseinanderhalten können und beim Namen nennen, antwortete ihr einer – nicht unfreundlich: «Für mich sehen dafür deine Buchstaben alle gleich aus.»

Respekt verschaffen konnte sie sich erst, als das einzige Radio, das einem Häuptling der Gruppe gehörte, den Geist aufgab. Sie setzte die Batterien richtig ein. «Fortan genoss ich Hochachtung.»
Es begann im Tösstal
Hanna Rauber hatte vor ihrem Jahr in Far West Nepal in Rikon im Tösstal Bekanntschaft mit der tibetischen Kultur gemacht. Sie hat im dortigen buddhistischen Kloster die tibetische Sprache gelernt und über die soziale Stellung des Schmieds im traditionellen Tibet doktoriert.
Ihr Wunsch, diese Kultur vor Ort zu erforschen, war aufgrund der politischen Entwicklung unmöglich. Tibet stand seit Anfang der 1950er-Jahre unter der Fuchtel von Maos China. 1959 floh der Dalai Lama nach Indien. Eine befreundete amerikanische Ethnologin machte sie aber auf noch nicht erforschte Tibetisch sprechende Händlernomaden in Nepal aufmerksam. «Das ist es», wusste sie sofort.

In dem Jahr, in dem Hanna Rauber mit den Bhote Khampa lebte und wanderte, dokumentierte sie Wirtschaft, Alltagsleben, Rechtsprechung und Rituale dieser Gemeinschaft. Sie erfuhr, dass sie sich ganz vergebens vor der Abreise das Rauchen abgewöhnt hatte, weil sie annahm, dass rauchende Frauen dort befremden.
Das erste Mal, als sie in ein «Frauenkränzchen» aufgenommen wurde, reichte man ihr eine «Beedi», eine in ein Blatt gewickelte Minizigarette, wie sie in Nepal üblich war. «Rauchen gehörte wie der Buttertee dazu, wenn man gemütlich beisammensass.»
«Chang tung!» – Lasst uns ein Bier trinken!
Auch ziemlich masslos Bier trinken ist nicht etwa eine europäische Sitte, sondern typisch Bhote Khampa, wobei das aus Reis hergestellte Bier für jede Gelegenheit – Willkommensgruss, Abschied, Neujahr, Erbteilung, Geburt – anders bezeichnet wurde. Bier wurde gegen Kopfweh und Magenverstimmungen getrunken, bei Hochzeiten floss Bier unter vier verschiedenen Bezeichnungen. «Chang tung», heisst es dann jeweils. «Lasst uns Bier trinken.»
Fröhlich war das Leben dieser Händlernomaden allerdings nicht allzu oft. Meist war es «unerträglich hart», wie die Khampa selber sagen. Damals waren sie die meiste Zeit im Jahr mit Sack und Pack, mit Ziegen und Schafen als Lasttieren und selbst schwer beladen unterwegs.

Auf ihren Wanderungen durchquerten sie drei verschiedene Klimazonen, stiegen von einer auf 200 Metern über Meer liegenden Ebene an der indischen Grenze, wo sie sich mit indischem Salz eindeckten, hinauf in die Hügel, wo sie dieses bei den Bauern gegen Reis eintauschten.
Sie zogen weiter über fast 5000 Meter hohe Pässe über die Grenze zum tibetischen Marktflecken Purang, wo sie tibetisches Salz gegen Reis tauschten. Für das tibetische Salz erhielten sie von den Bauern wiederum Reis, das zweimal im Jahr geerntet wurde. Der Gewinn war damals vier Mass Reis für ein Mass Salz.
Danach wurde im Herbstlager gefeiert, alles innert kurzer Zeit: Verlobungen und Hochzeiten, Geburten und Todestage. Es wurde Recht gesprochen – und viel Bier getrunken. Reich wurden die Khampa durch ihren Handel allerdings nicht. Hanna Rauber sagt: «Mir wurde erst nach und nach richtig bewusst, dass insbesondere die Frauen oft Hunger litten.»

Hanna Raubers Ausrüstung beschränkte sich schon bald auf ihren Rucksack mit den wichtigsten Utensilien, das Spatz-Zelt, ein paar Wanderschuhe und den Fotoapparat, den ihr das Seminar ausgeliehen hatte. Im Bergsteigergeschäft Eiselin hatte man ihr vor der Abreise zu einem warmen Pyjama geraten, der für Astronauten entwickelt worden war.
Doch in dem wohlig warmen Futter mit den vielen Nähten nisteten sich schon bald unzählige Läuse ein, sodass sie lieber etwas fror. Nur auf die Zahnbürste mochte sie nicht verzichten, obwohl die Bhote Khampa glaubten, sie sei krank, als sie sich die Zähne putzte.

Als Hanna Rauber nach einem Jahr zurück nach Zürich kam, erlitt sie einen Kulturschock, der bis heute nachwirkt. «Ein Schrank voller Kleider, für jede Gelegenheit Schuhe, von Parfüm wurde mir in der ersten Zeit richtig übel, und zwängelnde Kinder konnte ich schlecht ertragen.» Noch immer mache es ihr Mühe, wenn Menschen, die in einem solchen Luxus lebten wie wir, jammerten, weil sie sich beim Stromverbrauch etwas einschränken müssten.
In ihrem Buch geht Hanna Rauber weit über das Anekdotische hinaus. Ihre Aufzeichnungen werden mit Bildern und Grafiken ergänzt, sie erzählt persönliche Geschichten der Bhote Khampa und schildert anschaulich, wie sie damals lebten und – im Epilog – wie stark sich ihr Leben in den letzten Jahrzehnten änderte.
Sie verschweigt im Gespräch aber nicht, dass die Feldforschung heute umstritten ist. Die «teilnehmende Beobachtung», bei der jemand mit einer anderen Gesellschaft lebt und das Erlebte aus eigener Wahrnehmung aufzeichnet, wird zuweilen als kolonial empfunden. Es lässt sich wohl nicht vermeiden, dabei vieles aus westlicher Sicht zu betrachten. Doch der Anstoss, dieses Buch zu schreiben, kam von den Bhote Khampa selbst.
Als Hanna Rauber 2010 für einen dreimonatigen Aufenthalt zu den Bhote Khampa zurückkehrte, hatte sich viel verändert. In ihrem eigenen Leben – sie hatte unterdessen neben ihrer Forschungsarbeit zwei Kinder grossgezogen –, vor allem aber im Leben der Bhote Khampa.
1990 hatte China das letzte Stück Grenze zwischen Nepal und Tibet geschlossen und damit auch den Zugang zum Marktflecken Purang, wo die Bhote Khampa tibetisches Salz gegen Reis eintauschten. Das bedeutete das Ende des traditionellen Tauschhandels.
Das neue Leben der Bhote Khampa
Nach und nach liessen sie sich in den Tälern nieder, durch die sie früher gewandert waren. Wirtschaftlich wendete sich dadurch das Blatt für sie zum Guten. Seither verdienen sie Geld mit dem Transport verschiedener Lebensmittel, darunter auch die Wurzel Narde aus dem Himalaja, die in Indien und China als Hausmittel und für Kosmetik sehr begehrt ist.
Sie eröffneten Verpflegungsstände, wobei ihnen ihre Bierbraukunst zugutekommt. Da nur noch ein Teil der Männer mit Waren unterwegs ist und die Frauen in Dörfern leben, können die Kinder in die Schule gehen. Allerdings besuchen die Kinder heute die Schulen der Hindu-Bevölkerung, wo sie Nepali lesen und schreiben lernen, was sie zunehmend von ihrer tibetischen Kultur entfernt.

Die Bhote Khampa bereiteten Hanna Rauber einen grossen Empfang, als sie nach 33 Jahren wieder zu ihnen stiess. Doch als sie ihnen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1977 vorspielte, darunter Hochzeitslieder, und Fotos von damals zeigte, machte das vor allem die ältere Generation nachdenklich. Ihnen wurde bewusst, wie schnell sich ihre Traditionen ändern, seit sie sesshaft sind. «Schreib ein Buch darüber, wie es früher war», bat ein alter Bhote Khampa. Das hat Hanna Rauber nun getan.
Hanna Rauber: Of Salt and Rice, Life and Trade of the Bhote Khampa in Far West Nepal, Zürich 2022, Völkerkundemuseum der Universität Zürich, 35 Fr. (in englischer Sprache, das Buch wird ausserdem auf Nepali erscheinen).
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