Als wäre der Teufel hinter ihnen her
Das Parlament bereinigt das Sozialdetektive-Gesetz in nur einer Woche – ein Lehrstück in Lobbying.

Siebenmal ist das Geschäft 16.479 im Parlament, allein in dieser Woche:
- Montagnachmittag: Nationalrat.
- Mittwochmorgen: ständerätliche Kommission.
- Donnerstag, 10 Uhr: Ständerat.
- Donnerstag, 13 Uhr: Kommission Nationalrat.
- Donnerstag, 15 Uhr: Nationalrat.
- Freitagmorgen: Schlussabstimmungen in beiden Räten.
Für Schweizer Verhältnisse: Wahnsinn. Raserei. Eskalation. Selbst altgediente Politiker mögen sich kaum an eine solche Tempobolzerei erinnern. Nicht mal bei der Lex USA, als das Parlament unter grösstem Druck den Steuerstreit der Banken lösen sollte, hatten es die Politiker dermassen eilig. Es ist, als wäre der Teufel hinter ihnen her.
Wider alle parlamentarische Gepflogenheiten
Diesen Mittwoch etwa schlugen Ständeräte aus Angst vor der kleinsten Verzögerung vor, das Sessionsprogramm umzukrempeln und das Geschäft 16.479 statt am Donnerstag noch am Mittwoch zu diskutieren – ohne den zuständigen Bundesrat Alain Berset. Ein Vorgehen wider alle parlamentarische Gepflogenheiten.
Warum diese Eile, dieses Politisieren nahe am Notrecht? Das Geschäft 16.479 tangiert kaum vitale Interessen der Schweiz. Es regelt, dass Sozialversicherungen wie die IV, die Suva oder die AHV ihre Versicherten zur Missbrauchsbekämpfung überwachen können. Mit Ton- und Bildaufnahmen, aber auch mit GPS-Trackern und mit Drohnen. Nur für Letztere braucht es einen Richterentscheid.
Das Gesetz geht zurück auf den Oktober 2016. Damals befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, es fehle in der Schweiz die gesetzliche Grundlage für Sozialdetektive. Daraufhin stellten die Versicherer ihre Observationen ein.
Die Detektive pausierten, dafür schritten die Politiker unverzüglich zur Arbeit. Nur wenige Wochen nach dem Richterspruch entschied die Sozial- und Gesundheitskommission (SGK) des Ständerates, im Eilverfahren ein solches Gesetz auszuarbeiten. Mit Tempo Teufel wurde es nun auch durchs Parlament gepeitscht. Es herrsche «vehementer Zeitdruck», schärfte Ständerat Josef Dittli (FDP) seinen Kolleginnen und Kollegen im letzten Dezember ein. Das Gesetz sei der «schnellstmögliche Weg» und «dringend notwendig», pflichtete Alex Kuprecht (SVP) bei. Roland Eberle (SVP) warnte ebenfalls vor einer Verzögerung, man habe genug diskutiert und Gutachten studiert, man müsse nun entscheiden.
Im Nationalrat waren es diese Woche unter anderem Lorenz Hess (BDP) und Ruth Humbel (CVP), die auf einen Abschluss drängten. Ihre Argumente: Die Missbrauchsbekämpfung sei für das Vertrauen in die Sozialversicherungen eminent wichtig. Und den Versicherern entgingen Millionen, seit sie Betrüger nicht mehr observieren dürften.
Was weder Dittli noch Kuprecht noch Eberle noch Hess oder Humbel sagten: Sie alle haben Mandate bei Versicherern, die direkt vom Gesetz profitieren. Nun haben sie ihren Unternehmen eine Vorlage massgeschneidert, die es wieder erlaubt, den Versicherten nachzustellen. Dank dem Eilverfahren könnte das Gesetz noch dieses Jahr in Kraft treten. Das Geschäft 16.479 – es ist eine Machtdemonstration der Versicherungslobby.
Einmal so, einmal so
Das lässt sich auch bei der Detailberatung zeigen. Zufall ausgeschlossen. Fehlentwicklungen sofort gestoppt. So wie nach der ersten Sitzung der Gesundheitskommission des Nationalrats, die nicht im Sinne der Versicherungen verlief. Der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer war zu Gast, und er hinterliess offenbar einen bleibenden Eindruck. Er wies auf grundrechtliche Probleme im Gesetz hin. Darauf bestimmte die Kommission, überraschend, dass sämtliche Observationsmassnahmen richterlich genehmigt werden müssen. «Es wäre eine Notlösung gewesen», sagt Schefer, «aber sicher besser als das jetzige Gesetz.»
Die «Notlösung» stiess bei der Suva und beim Schweizerischen Versicherungsverband auf grössten Widerstand. Ihr Glück: Die Kommission wurde mit der Beratung des Gesetzes nicht ganz fertig und setzte eine zweite Sitzung im Februar an. Davor erhielten alle Mitglieder der SGK einen Brief der Suva und des Verbandes, in welchem sie ihre «Einschätzungen und Empfehlungen» abgaben. Es sei eine «massive und praxisuntaugliche Verschärfung», wenn künftig jedes Mal eine Richterin oder ein Richter über Überwachungsmassnahmen entscheiden müsste. «In der Praxis würden hohe Kosten und zeitliche Verzögerungen entstehen, welche eine effiziente Verfolgung von Betrugsversuchen faktisch verunmöglichen.»
«Es ist bemerkenswert, wie stark sich ein Betrieb wie die Suva in den Gesetzgebungsprozess einmischt.»
Der Brief der Suva wurde Politik. Sofort. Und er wurde Argumentationsvorlage für all jene, die später im Rat für das neue Gesetz eintraten. Ohne substanzielle Änderungen wurden in der zweiten Sitzung der Kommission quasi alle Vorschläge aus dem Schreiben der Suva übernommen. Die richterlichen Bewilligungen wieder rausgeworfen, das Gesetz auf Kurs der Versicherungslobby.
Um was es den Versicherungen eigentlich geht, sah man kurz vor der Debatte im Nationalrat, als die Suva per Medienmitteilung die Zahl von 5,5 Millionen Franken verbreitete. So viel Geld entgehe der Suva wegen der fehlenden Observationen im Jahr, darum brauche es das neue Gesetz. «Wir beurteilen den aktuellen Gesetzesvorschlag als praxistauglich», hiess es in der Mitteilung. Alles andere wäre ja auch überraschend gewesen: Der Vorschlag entspricht weitgehend den Vorstellungen der Suva.
«Es ist schon bemerkenswert, wie stark sich ein bundesnaher Betrieb wie die Suva in den Gesetzgebungsprozess einmischt», sagt Markus Schefer. «Ebenso bemerkenswert ist, wie all ihre Vorschläge willig aufgenommen werden.»
Ein Präjudiz
Den grössten Sieg erzielten die Versicherungen ganz zu Beginn des Prozesses. Die neue rechtliche Grundlage für die Überwachung von Versicherungsbetrügern ist jetzt im allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts angesiedelt. Das heisst konkret: Es erfasst alles. Auch die Krankenkassen. Auch die AHV. In den Beratungen der Kommission war die Ausweitung des Geltungsbereichs kaum ein Thema – die meiste Zeit wurde für die Art der Bewilligung verbraucht.
«Ohne Not hat man ein Präjudiz von erheblicher Tragweite geschaffen», sagt Schefer. «Ich habe die Dringlichkeit nie verstanden. Man hätte das auch sorgfältig machen können.»
Jetzt war es halt der «schnellstmögliche» Weg. Spektakulär rasant. So, wie sich das Alex Kuprecht und seine Mitlobbyisten gewünscht hatten. Geht es nach dem Ständerat, liegt es in der Natur der Sache, dass die Versicherungen im Gesetzgebungsprozess eine starke Rolle spielen. Kuprecht sagt, ironiefrei: «Hätten alle Politiker in den Ausstand treten müssen, die bei einer Krankenkasse, einer Versicherung oder einer Pensionskasse ein Mandat haben, hätten wir das Gesetz gar nicht beraten können.»
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