«Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft ohne ihr altes Schlachtross den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen.» Angela Merkel schrieb diesen Satz 1999 in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», er richtete sich gegen Helmut Kohl. Fünf Monate später griff seine Autorin nach dem Vorsitz der CDU.
Fast 20 Jahre später beginnen die deutschen Christdemokraten den Satz nun gegen Merkel zu wenden. Als die Bundestagsfraktion der Union am Dienstag gegen alle Erwartung Merkels engen Vertrauten Volker Kauder an ihrer Spitze stürzte und sich damit von der kurzen Leine des Kanzleramts losriss, bereitete sie dem Oberhaupt die bislang schwerste Niederlage ihrer 13-jährigen Kanzlerschaft.
Ist dies nun endlich der «Anfang vom Ende» ihrer Ära, wie Kommentatoren bedeutungsvoll raunen? Abgesehen davon, dass die Prognose zwangsläufig wahr wird, wenn man nur lange genug an ihr festhält, ist sie jedenfalls alles andere als neu. Im Spätherbst der Flüchtlingskrise 2015 erschienen in der deutschen Presse die ersten Artikel mit diesem Titel, sie wiederholten sich nach der Silvesternacht von Köln und den Niederlagen in mehreren Landtagswahlen.
Zeitpunkt verpasst
Auch nach den schweren Verlusten bei der Bundestagswahl vor einem Jahr «rückte das Ende unaufhaltsam näher», ebenso nach dem Scheitern der Verhandlungen um eine Jamaika-Regierung oder dem apokalyptischen Streit um die Asylpolitik in diesem Sommer. Tatsächlich ist es nicht zu übersehen: Merkels Macht schwindet, ihr Machtgefüge zerfällt. Aber noch vollzieht sich der Fall wie in Zeitlupe.
Ob die 64-Jährige den Übergang an der Macht noch selber gestalten kann, ist fraglich. Eines dagegen ist gewiss: Sie, die stets betonte, sie wolle über ihren Abgang einmal selbst bestimmen, hat diesen Zeitpunkt verpasst – wie vor ihr schon die Langzeitregenten Konrad Adenauer oder Helmut Kohl. Als Kanzlerin zurücktreten wird sie jedenfalls kaum, nicht jetzt und nicht in den nächsten Monaten. Das entspricht nicht ihrem Naturell.
Auf die Frage, wie sie denn ihre Nachfolge zu regeln gedenke, sagt sie am liebsten: «Gar nicht.» In Wahrheit weiss sie natürlich, dass sie ihrer Partei nun ermöglichen muss, die Zukunft unabhängig von ihr anzugehen. Einen ersten, wichtigen Schritt hatte Merkel nach der Bundestagswahl gemacht, als sie Annegret Kramp-Karrenbauer als neue Generalsekretärin einsetzte. Die Saarländerin gilt zwar als Vertraute Merkels, hat der Partei aber bereits wieder deutlich mehr Eigenständigkeit verliehen – oft in bewusster Abgrenzung zur Arbeit der Regierung.
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Bildstrecke: Niederlage für Merkel und ihren Vertrauten
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Mit der «feindlichen Übernahme» des Fraktionsvorsitzes haben die Abgeordneten des Bundestags nun den zweiten Schritt zur Emanzipation getan. Fehlt noch der wichtigste: der Wechsel an der Spitze der Partei. Merkel führt die CDU seit unglaublichen 18 Jahren. Über ihren Vorgänger Gerhard Schröder hat sie einmal gesagt, dessen grösster Fehler als Kanzler sei es gewesen, den Vorsitz seiner SPD abzugeben.
Es ist deswegen wenig wahrscheinlich, dass Merkel Schröders «Fehler» wiederholt. Tritt sie nicht zur Seite, steigt wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass es am Parteitag im Dezember zu einer Kampfwahl um den Vorsitz kommt, wie zuletzt in der Fraktion.
Wer will, dass sich die CDU vom Ruf des «Kanzlerwahlvereins» befreit, muss am Parteitag gegen sie antreten. Wer sie einst als Kanzlerkandidatin beerben will, sowieso. Es gibt in der Partei nicht viele, aber doch einige, die sich diese Rolle zutrauen: neben der 56-jährigen Kramp-Karrenbauer vor allem der 38-jährige Gesundheitsminister Jens Spahn, der Liebling der Konservativen. Auch andere, von denen man heute noch weniger spricht, könnten auf den Geschmack kommen – wie zuletzt in der Fraktion der nahezu unbekannte Ralph Brinkhaus.
Keine Hilfe von den Partnern
So notwendig es nun ist, dass sich die CDU erneuert und von ihrer Überfigur Merkel löst, so sehr wird es der Kanzlerin das Regieren erschweren. Sie wird bei Kompromissen mit den Sozialdemokraten mehr auf die Einwände ihrer Partei und Fraktion Rücksicht nehmen müssen als bisher.
Hilfe von den Koalitionspartnern kann sie nicht erwarten, im Gegenteil: Die SPD ist selbst von Richtungskämpfen zerrüttet und wartet nur auf die Gelegenheit, halbwegs aufrecht aus dieser Grossen Koalition zu flüchten. Die bayerische CSU wiederum unterläuft seit drei Jahren die Autorität Merkels, wo sie nur kann.
Keine Frage: Merkel ist jetzt eine «lahme Ente», wie man in den USA die (Ohn-)Mächtigen nennt, deren Amtszeit langsam abläuft.
Die Kanzlerin hat also kaum noch freie Hand, sie wird vielmehr für jedes politische Vorhaben erst mühselig eine Mehrheit finden müssen. Im Ergebnis dürfte es sich für sie wie jene Minderheitsregierung anfühlen, die sie nie wollte. Natürlich könnte sie jetzt, wie es ihr Freund und Feind nahelegen, die Vertrauensfrage im Bundestag stellen, um ihre Autorität wieder zu stärken.
Doch selbst eine Zustimmung bedeutete nicht besonders viel, weil sie vor allem aus Angst vor Neuwahlen und einem Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) zustande käme. Keine Frage: Merkel ist jetzt eine «lahme Ente», wie man in den USA die (Ohn-)Mächtigen nennt, deren Amtszeit langsam abläuft.
2019 folgen drei Wahlen im Osten
Die Chance, dass Merkels dritte Grosse Koalition das nächste Jahr übersteht, ist nicht sehr gross. Bereits nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen in den nächsten Wochen kann eine Dynamik des Niedergangs einsetzen, die auch die krisenerprobte Kanzlerin nicht mehr zu kontrollieren imstande ist.
Nächstes Jahr folgen drei Wahlen in Ostdeutschland, die für die Anti-Merkel-Partei AfD zum Triumph und für die CDU zur Katastrophe werden könnten. Spätestens bis dann, besser früher müssen die Christdemokraten beweisen, dass sie in Zukunft auch ohne Merkel laufen können.
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Angela Merkel fällt, aber wie in Zeitlupe
Die Frage ist nicht mehr, wann die Ära der deutschen Kanzlerin endet, sondern nur noch, ob sie das Ende mitgestalten kann. Sie ist zur «lahmen Ente» geworden.