Anklageschrift: Thomas N. log und log und log
Die Anklageschrift zum Mordfall Rupperswil beinhaltet vieles, was bisher nicht bekannt war. Klar macht sie vor allem eines: Thomas N. plante die Tat minutiös – und handelte äusserst grausam.
Thomas N. war ein Meister im Lügen.
Er hat seine Mutter belogen. Mit ihr lebte er zusammen im elterlichen Haus in Rupperswil, ein paar hundert Meter vom späteren Tatort entfernt, sein Vater war 2011 verstorben. Trotz zahlreicher Versuche gelang es Thomas N. nicht, die verschiedenen angefangenen Studien erfolgreich fortzusetzen oder gar zu beenden. Seiner Mutter, die ihm massgeblich seinen mitunter aufwendigen Lebensunterhalt finanzierte, gaukelte er ein erfolgreiches Studium vor. Konkret sagte er ihr, er habe ein Geschichtsstudium mit dem Master abgeschlossen und sei nun als Doktorand an der Universität Bern angestellt. All dies zeigt die Anklageschrift im Fall Rupperswil, die das Bezirksgericht Lenzburg jetzt veröffentlicht hat. Morgen beginnt der viertägige Prozess gegen den geständigen Täter.
Damit die Mutter ihm auch wirklich glaubte, erstellte Thomas N. fiktive Zeugnisse und Urkunden von Universitäten – samt Logos und angeblicher Unterschriften von Rektoren und Dekanen der jeweiligen Fakultäten. Da er in Wahrheit aber gar kein Studium abgeschlossen hatte und auch keiner Arbeit nachging, reifte in ihm ab Frühling 2015 die Idee, auf andere Weise an Geld zu kommen. In der Anklageschrift heisst es: «Er malte sich aus, ca. 30'000 Franken zu erbeuten, um damit die Zeit bis Sommer 2016 zu überbrücken.» Anschliessend würde er die bestohlenen Personen umbringen, so sein Plan.
Im Sommer 2015 traf Thomas N., der seit Jahren um seine pädophile Veranlagung wusste, per Zufall auf den 13-jährigen Sohn der späteren Opferfamilie. Da er ihm gefiel, baute Thomas N. den Jungen fortan in seine Gedankenspiele mit ein. Sein immer konkreterer Plan sah nun nicht nur einen Raubmord vor, sondern auch, sich am Jungen sexuell zu vergehen. Dazu spionierte er das Leben des 13-Jährigen und seiner Familie aus: Er recherchierte im Internet und begegnete dem Buben immer wieder scheinbar zufällig in Rupperswil. Laut Anklageschrift sprach er ihn nie an – die Begegnung habe aber jeweils «Glücksgefühle» beim Beschuldigten ausgelöst.
Er gab sich als Schulpsychologe aus
Seine Eigenschaft als guter Lügner machte sich Thomas N. schliesslich auch am 21. Dezember 2015 zunutze. Zwischen 7.30 und 8 Uhr klingelte er an der Tür der Familie, die 48-jährige Mutter öffnete. Er stellte sich als Mitarbeiter des Schulpsychologischen Dienstes der Sekundarschule vor, die ihr jüngerer Sohn besuchte. Und er präsentierte ihr eine Visitenkarte, die er kurz davor an seinem Laptop erstellt hatte. Sein gefälschter Name: Dr. Sebastian Meier. Sein angeblicher Beruf: Schulpsychologe. Ebenfalls zeigte er ihr ein fiktives Schreiben der Schule. In diesem stand, eine Schülerin habe aufgrund von Mobbing Selbstmord begangen. Am Mobbing sei unter anderem der 13-jährige Sohn der Familie beteiligt gewesen.
Die Mutter war laut Anklageschrift «fassunglos» – und bat den Besucher für einen Kaffee ins Haus. Er wolle mit ihr und ihrem Sohn über das Mobbing und den daraus resultierten Suizid reden, hatte er ihr weisgemacht. In seinem Rucksack: sechs Flaschen Fackelöl, ein elektrischer Anzünder, Klebeband, Handschuhe, ein Mundschutz, Sexspielzeug sowie Kabelbinder, die teilweise bereits zu Handschellen vorbereitet waren. Ebenso: ein Küchenmesser.
Im Haus nahm Thomas N. den jüngeren Sohn als Geisel und bedrohte ihn mit dem Messer. Anschliessend musste die Mutter ihren älteren Sohn und dessen Freundin fesseln, 19 und 21 Jahre alt. Und sie musste an Bancomaten in Rupperswil und Wildegg Geld abheben. Sie schlug ausser Haus keinen Alarm, weil sie sich beobachtet glaubte. Thomas N. hatte sie erneut angelogen: Er habe ein Foto von ihr an einen Komplizen geschickt, sagte er ihr, bevor sie das Haus verliess. Diesen Komplizen gab es nicht.
Als die Frau mit 1000 Euro und knapp 10'000 Franken zum Haus zurückkam, fesselte der Beschuldigte auch sie. Er verging sich am jüngeren Sohn und schnitt anschliessend allen vier Menschen im Haus die Kehle durch. Laut Anklageschrift nahm Thomas N. den sexuellen Missbrauch mit seinem Handy auf. Am Schluss legte er an mehreren Orten im Haus Feuer, um die Spuren zu verwischen. Gut drei Stunden später, um 11.19 Uhr, alarmierte ein Nachbar die Feuerwehr und die Polizei. Er sah Rauch aus dem Haus der Familie austreten.
Mit dem erbeuteten Geld in die Ferien
Und was machte Thomas N. nach der Tat? «Das Leben des Beschuldigten verlief weiter wie vor der Tat», heisst es in der Anklageschrift. Das erbeutete Geld habe er unter anderem für Essen, Markenkleider, Tierarztrechnungen für seine Hunde und Krankenkassenprämien benutzt. Und er fuhr zweimal in die Ferien: einmal nach Paris, einmal nach Nauders zum Skifahren.
Zudem plante er weitere, gleichgelagerte Verbrechen – ganz konkret. Wie die Anklageschrift zeigt, begann der damals 32-Jährige bereits kurz nach seiner Tat vom 21. Dezember 2015, im Internet nach Knaben zu suchen, welche dem jüngsten Opfer von Rupperswil ähnlich sahen. In einem Notizbuch legte er fein säuberlich Bilder von 11 Jungen ab, allesamt zwischen 11 und 15 Jahre alt, versehen mit Namen und anderen Informationen wie Wohnort und Schule.
Bei zwei dieser potentiellen Opfer ging er noch weiter: Zu einem Buben aus dem Kanton Bern tätigte der Beschuldigte bereits am 27. Dezember 2015 Recherchen im Internet – nur sechs Tage nach dem Vierfachmord. Im Januar 2016 begab er sich fünf Mal in die Nähe des Wohnortes des Jungen, um den Tagesablauf der Familie zu eruieren. An zwei Tagen rief Thomas N. die Festnetznummer der Familie an.
In der Anklageschrift heisst es: «Er hatte den Plan, wiederum die Familie in seine Gewalt zu bringen, die einzelnen Personen festzuhalten, so die Herausgabe von Geld und anderen Handlungen zu erzwingen.» Und weiter: Thomas N. habe geplant, mit dem Buben gegen seinen Willen sexuelle Handlungen vorzunehmen, die Familienmitglieder zu töten und deren Haus in Brand zu setzen.
«Di 7:40 alle zuhause, wach»
Gleich ging der Beschuldigte bei einem Buben aus dem Kanton Solothurn vor. Auch bei ihm spazierte Thomas N. im Januar 2016 durch das Wohnquartier, spionierte den Tagesablauf der Familie aus. Konkret schrieb er in sein Notizbuch: «Di 7:40 alle zuhause, wach». Auch sie rief er zuhause an. Als jemand ans Telefon ging, gab er an, sich verwählt zu haben. Er recherchierte im Internet zur Familie – ebenso zu den Öffnungszeiten einer Bank in der Nähe. Genau wie im Fall Rupperswil.
Thomas N. wollte auch diese Eltern belügen. Erneut fälschte er eine Visitenkarte und einen Brief der Schule – mit derselben erfundenen Geschichte. Am 11. Mai 2016 fuhr er mit dem Auto seiner Mutter in das Quartier der Familie. Dort lief er mit seinem fertig gepackten Rucksack umher, dessen Inhalt bereits einmal Verwendung gefunden hatte. Aus unbekannten Gründen liess er dann aber von seinem Plan ab und fuhr wieder nach Hause. Am nächsten Tag wurde Thomas N. in einer Starbucks-Filiale in Aarau verhaftet – nach 146-tägiger intensiver Fahndung. Noch am selben Tag legte er ein Geständnis ab.
Konkret wirft die Staatsanwaltschaft dem heute 34-Jährigen Mord, räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung, Geiselnahme, sexuelle Handlungen mit Kindern, sexuelle Nötigung, Pornografie, Brandstiftung, Urkundenfälschung sowie strafbare Vorbereitungshandlungen vor, das meiste davon mehrfach. Im Fall der mehrfachen Pornografie ist in der Anklageschrift die Rede von insgesamt rund 1000 Videos und 10'000 Fotos, die Thomas N. bei sich gespeichert hatte. Sie zeigen sexuelle Handlungen von Männern mit minderjährigen Knaben. Veröffentlicht hat das Gericht heute auch ein 8-seitiges Verzeichnis der beschlagnahmten Gegenstände. Bei Thomas N. wurden neben mehreren Fotoapparaten und Mobiltelefonen auch diverse Memory Sticks sowie eine externe Festplatte sichergestellt. Auf dieser speicherte der Beschuldigte das kinderpornographische Material ab.
Strafanträge erst am Prozess bekannt
Die Strafanträge gibt die Leitende Staatsanwältin Barbara Loppacher erst am Prozess bekannt. Ihr Plädoyer wird – zusammen mit den Plädoyers der Opferanwälte und der Verteidigung – am Mittwoch erwartet. Auf morgen Dienstag ist die Befragung zweier Psychiater angesetzt, die je ein forensisches Gutachten zum Beschuldigten verfasst haben. Ebenso am Dienstag findet die Befragung von Thomas N. zu seiner Person sowie zum Verbrechen statt.
Der Prozess findet aus Platzgründen in einem Saal der Kantonspolizei Aargau in Schafisheim AG statt. Falls vier Tage nicht ausreichen, wurde für den 21. März ein Reservetag festgesetzt. Das Interesse an der Gerichtsverhandlung ist gross: Erwartet werden 65 Medienschaffende, auch aus dem Ausland, die übrigen 35 Plätze wurden an Privatpersonen vergeben. Laut Gericht hatten sich über 200 weitere Personen angemeldet, mussten aber abgewiesen werden. Die nötige Auswahl sei auch «mit dem Ziel eines möglichst ausgewogen durchmischten Zuschauerkreises vorgenommen» worden.
----------
Video: «Warum mussten die vier Menschen sterben?»
----------
Aus Rücksichtnahme auf die Opfer und ihre Angehörigen in diesem Fall hat sich die Redaktion dazu entschlossen, unter diesem Artikel keine Kommentare zuzulassen. Wir bitten um Ihr Verständnis.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch