Anti-Aging für Hundertjährige
Güzin Kar über Werden und Vergehen.

Neulich, als ich krank darniederlag, sah ich auf Netflix einen Dokumentarfilm über Iris Apfel. Das ist die New Yorker Mode- und Einrichtungskoryphäe, die Brillen in der Grösse von Wagenrädern und aufgereihte Medizinbälle und Backsteine als Halsschmuck trägt. Vielleicht habe ich auch das Prinzip Stilikone nicht verstanden, weder bei Iris Apfel noch bei Alexa Chung, bei deren Anblick ich nicht zu hyperventilieren beginne vor Begeisterung, nicht, weil ich sie nicht mag, sondern weil ich sie auf Fotos nie erkenne.
Ich kann Alexa Chungs Aussehen nicht abspeichern, weshalb ich jedes Mal, wenn sie mir begegnet, den Eindruck gewinne, dass man unter das Foto irgendeiner jungen Frau «Alexa Chung» geschrieben hat. Nik Hartmann erkenne ich auch nie, übrigens. Im Film über Iris Apfel war zu sehen, wie deren inzwischen verstorbener Ehemann Carl seinen 100. Geburtstag feierte. Frau Apfel überreichte Herrn Apfel eine Torte mit Kerzen und hielt eine Ansprache vor Freunden, die sie mit den Worten schloss: «Eine Frau ist so alt, wie sie ausschaut, aber ein Mann ist niemals alt, solange er noch schaut.» Den genauen Wortlaut habe ich nicht abgespeichert (der Alexa-Chung-Effekt!), aber der Inhalt war ganz bestimmt dieser. Ich war trotz Grippe und Fieber höchst alarmiert und davon überzeugt, dass ich diesem Satz aufs Vehementeste widersprechen würde, sollte ich jemals in die Lage kommen, darüber debattieren zu müssen. Dann schämte ich mich, weil ich es unhöflich von mir fand, eine so alte und sicherlich lebenserfahrene Dame (Frau Apfel war, als der Film gedreht wurde, schon über 90) mit meiner Kritik zu belästigen, zumal sie ihren Satz in einer sehr anrührenden Situation geäussert hatte. Aber natürlich werde ich nie gemeinsam mit Iris Apfel auf einem Podium sitzen und die Frage «Wann sind Menschen wirklich alt?» diskutieren. Aber die Gedanken dazu rotieren seither.
Dabei fand ich zwei Dinge an diesem Satz bemerkenswert. Zum einen die Rollenteilung von Sehen und Gesehenwerden. Der Mann ist das sehende Subjekt, die Frau das betrachtete Objekt. Nicht situationsabhängig, sondern generell. Das muss für beide Seiten anstrengend werden, da ich mir vorstellen kann, dass der Mann auch mal müde wird vom Dauerschauen und die Frau mal Lust hat, nicht an ihr Aussehen zu denken. Das zweite Beachtliche an diesem Zitat ist die Haltung gegenüber dem Altern, die daraus spricht. Altern scheint eine der grössten Horrorvorstellungen des modernen Menschen zu sein, sodass man selbst einem Hundertjährigen noch versichern muss, dass er noch nicht alt sei. Ein Mann ist nicht alt, solange er schaut. Warum darf sich ein Mensch, der ein Jahrhundert lang gelebt hat, nicht einfach alt fühlen? Sollte man nicht eher sagen: «Okay, Carl, du bist jetzt uralt, und das ist gut so, denn jetzt kannst du definitiv auf- hören, irgendwelche Fitnessteller zu bestellen.»
Aber Menschen als alt zu bezeichnen, gilt als grosse Beleidigung, weshalb wir alle dem Mechanismus verfallen, jemandem, der sein Alter offenbart («Ich bin gerade 56 geworden») sofort mit Komplimenten beizustehen, die sich darin erschöpfen, dass man Unglauben mimt. Sieht man Ihnen aber gar nicht an! Man lobt das Gegenüber für dessen Jugendlichkeit, weil man das halt so macht.
Ich selber kenne keinen Hundertjährigen, aber sollte mir mal einer begegnen, werde ich sagen: «Du hast die Zielgerade längst überschritten, Alter. Vergiss das olle Sehen und Gesehenwerden und geniess deine Ehrenrunde so unehrenhaft, wie es nur geht.»
Güzin Kar ist Drehbuchautorin und Filmregisseurin. www.guzin.ch
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