Daten zum Stadt-Land-Graben«Arrogante Städter», «gsellige Landeier» – die Schweiz driftet gerade stark auseinander
Die politische Kluft zwischen urbanen Zentren und den ländlichen Regionen ist seit 2020 sprunghaft grösser geworden. Das zeigt eine neue Analyse des Abstimmungsverhaltens.

Die Schweiz, zerstritten, ein geteiltes Land: Dieser Eindruck dürfte verbreitet sein, erst recht seit dem letzten Juni. Damals verwarf das Stimmvolk das CO2-Gesetz und die beiden Agrar-Initiativen. Es war ein Sieg der ländlichen über die urbane Schweiz. Nur: Wie gross ist der Stadt-Land-Graben wirklich?
Jetzt liegen Antworten vor. Das Meinungsforschungsinstitut Sotomo hat im Auftrag der Agrargenossenschaft Fenaco vom 1. bis 17. Oktober 2021 gut 3000 Personen in der Deutsch- und der Westschweiz befragt. «Die Schweiz driftet politisch auseinander», resümiert Michael Hermann, einer der Autoren des «Stadt-Land-Monitors 2021».
Seit Beginn der 2020er-Jahre ist der Gegensatz zwischen den grossen Städten (über 50’000 Einwohner) und dem ländlichen Raum sprunghaft gewachsen. Das zeigt ein Vergleich der Ja-Anteile bei nationalen Urnengängen. Zwischen 1980 bis 2014 wichen die Städter und Landbewohner in ihrem Stimmverhalten um etwa rund 12 Prozentpunkte voneinander ab. In der Folge vergrösserte sich diese Kluft, «zunächst langsam und dann massiv», wie es in der Studie heisst. Heute beträgt die durchschnittliche Differenz 19 Prozentpunkte.
Beim CO2-Gesetz und der Trinkwasserinitiative waren es sogar 32 Prozentpunkte, ein Rekord in den 350 nationalen Abstimmungsvorlagen seit 1981. Die Pestizidinitiative folgt mit 31 Prozentpunkten unmittelbar dahinter. Ein Höchstwert auch dies: Nie in den letzten 40 Jahren gab es so viele Urnengänge, die einen derart grossen Stadt-Land-Graben offenlegten, wie seit Beginn der 2020er-Jahre. Dazu gehören etwa auch das Jagdgesetz, die Konzernverantwortungsinitiative und die Begrenzungsinitiative. Dabei waren die Städte in 11 von 22 Abstimmungen die Verlierer, der ländliche Raum hingegen nur einmal.
Dieser Befund könnte jene Stimmen wieder lauter werden lassen, die den Städten mehr politisches Gewicht verleihen wollen. Diesen Herbst hat der Bieler Stadtpräsident Erich Fehr (SP) die Einführung eines Städtereferendums gefordert. Die kleinen Kantone hätten angesichts des geltenden Ständemehrs ein zu starkes Gewicht – und das, obwohl 70 Prozent der Schweizer Bevölkerung in urbanen Räumen lebten. Ideen gibt es einige, dazu gehört etwa auch, den grössten Städten eine zusätzliche Standesstimme zu gewähren.
Der «Puffer», der dämpft
Der Gegensatz zwischen Land und Stadt ist derart ausgeprägt, dass ihn zwei Drittel der Befragten als gross und relevant wahrnehmen. Gleichzeitig sind aber drei Viertel überzeugt, dass die Schweiz diese Spannung aushält. Wie geht das zusammen? Es stehen sich nicht zwei geschlossene Lager gegenüber. Vielmehr sehen 20 Prozent der Befragten gar keinen Graben, weitere 34 Prozent verorten sich weder auf der Stadt- noch auf der Landseite. Zusammen bilden sie eine Mehrheit, die keine Partei ergreift und daher gemäss Studie «eine Art Puffer» in diesem Konflikt bildet.
Interessant ist insbesondere, wie sich die Wählerschaft der Parteien positioniert. Diesen Sommer hat die SVP versucht, den Stadt-Land-Graben zu einem Schlüsselthema zu machen. «Wir sagen diesen linksgrünen Wohlstandsverwahrlosten den Kampf an», kündigte Präsident Marco Chiesa am 1. August an – und setzte damit den Ton für die folgende Debatte. Linke Politiker konterten, die SVP arbeite in trumpscher Manier an der Spaltung der Gesellschaft.
Wie die Studie nun zeigt, nehmen sich 45 Prozent der SVP-Basis als Teil vom «Land» in diesem Gegensatz wahr. Eine Minderheit also. Der Stadt-Land-Graben, so folgern die Studienautoren, eigne sich daher als Kampagnenthema und als Grundlage zur Lagerbildung «nur bedingt». Dafür seien die Haltungen bei den Wählenden «nicht genügend schwarz-weiss».
Die SVP sieht das anders. Entscheidend sei nicht, ob der Stadt-Land-Gegensatz als Kampagnenthema tauge, sagt Nationalrat Thomas Matter. «Entscheidend ist, dass er tatsächlich besteht und sich in rasantem Tempo verschärft.» Die SVP sieht durch die Studie jene politischen Gegner widerlegt, die behauptet hätten, der Stadt-Land-Graben sei eine Erfindung der SVP. Die Partei wird das Thema weiterbearbeiten, wie Matter klarmacht. Die Schweiz, sagt er, könne nur mit Leistungsträgern Freiheit, Wohlstand und Arbeitsplätze bewahren – nicht aber mit «roten und grünen Luxussozialisten in den Städten».
Es sind Aussagen, die Stefan Müller-Altermatt (Die Mitte) irritieren. «Die SVP hat aufs falsche Pferd gesetzt, wenn sie meint, sie könne mit Spaltung Wähler gewinnen.» Die SVP versuche nicht, mit Ideen zu punkten, sondern mit dem «Nach-dem-Mund-Reden», so der Nationalrat. Das sei Populismus. Und dieser stosse eben an seine Grenzen, wenn es nicht nur Schwarz und Weiss gebe.
Linksrutsch in den Städten
Dass die Polarisierung gerade jetzt ihren vorläufigen Höhepunkt erlebt, ist kein Zufall. Zwar gab es seit 2020 eine – zufällige – Häufung von Vorlagen aus Themenfeldern, die auch schon früher stark umstritten waren, etwa Umwelt-Lenkungsabgaben. Allerdings gibt es übergeordnete Entwicklungen. Politgeograf Hermann meint damit nicht primär die Corona-Krise. «Die grüne Welle bei den Wahlen 2019 und das Klimathema sind wichtiger.» Während das politische Profil des ländlichen Raumes in den letzten 30 Jahren praktisch gleich geblieben ist, sind die Städte nach links gerückt – und beim Linksrutsch bei den Wahlen 2019 sogar überproportional stark. Hermanns Vermutung: Die Dominanz von städtischen Diskursen, zum Beispiel auch zu Gender, habe die Wahrnehmung auf dem Land verstärkt, durch die Städte bestimmt zu werden.
Das wiederum dürfte die gegenseitige Wahrnehmung beeinflussen. Heute schon könnte der Kontrast kaum grösser sein, wie die Studie aufzeigt: Städter nehmen die Landbevölkerung als «traditionell», «gesellig» und «hilfsbereit» wahr. Die Befragten vom Land dagegen etikettieren die Städter anders: als «konsumfreudig«, «arrogant» und «egoistisch».
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