Was für ein Comeback! Mitte des 19. Jahrhunderts war der Rothirsch in der Schweiz ausgerottet. Nun ist er «Tier des Jahres» der Naturschutzorganisation Pro Natura – und alle wollen ihn nun besser kennen lernen. Als Zürcher muss man dafür gar nicht weit fahren: Etwa 140 der 35'000 Schweizer Rothirsche leben an der Kantonsgrenze, in den Hügeln rund um den Tössstock.
Die dortigen Jäger müssten wissen, wo es Hirsche zu sehen gibt. Walter Wagner, Obmann des Jagdbezirks Oberland, erklärt sich zur Pirsch bereit. Dass man den König des Waldes zu Gesicht bekomme, sei aber «eher unwahrscheinlich». Winterzeit ist Ruhezeit. Der Hirsch bewegt sich dann kaum, fällt einige Stunden am Tag in eine Kältestarre, um Energie zu sparen. In der Dämmerung seien die Chancen am grössten, sagt Wagner.
Also los. Der Wetterdienst sagt minus 10 Grad voraus. Mit langen Unterhosen und Thermosflasche fährt man hoch nach Sternenberg. Dort war Walter Wagner, genannt Wädi, lang Jagdleiter der Jagdgesellschaft. Später hat er den Posten an seinen Bruder abgegeben und kein Jagdpatent mehr beantragt. «Mich zieht es zum Naturschutz», sagt er.
Wagner erzählt, dass ihm das Töten irgendwann schwerfiel. «Es gab einen Moment, da sass ich schussbereit auf dem Hochsitz. Ein Reh trat aus dem Wald. Ich drehte mich ab und dachte: Heute mag ich nicht schiessen.» Die Hege liegt Wagner mehr. Sie gehört zum Ehrenkodex der Jäger und steht, vereinfacht gesagt, für das kontrollierte Wachsenlassen des Wildes. Massnahmen wie Jagdbanngebiete, Schonzeiten oder Schutz der weiblichen Tiere halfen auch dem Hirsch bei seiner Rückkehr.
Förster fordern Abschuss
Ankunft in Sternenberg, 875 m ü. M. Bruno Wagner, Jagdleiter der Jagdgesellschaft Sternenberg, und seine Hündin Mira, ein lebhafter Jagdterrier, warten im Pick-up vor der kleinen Kirche. Wenn hier jemand weiss, wo die Hirsche sind, dann diese beiden. Die Jäger tauschen sich aus – Fährten, Verbiss, Losung –, verständlich ist das nur für Eingeweihte.
Auf zu einer Stelle, wo Bruno Wagner am Vormittag im Schnee frische Fährten der Hirsche gesehen hat. «Hier ist ein ganzes Rudel durch, etwa acht Tiere dürften es gewesen sein», sagt Wagner und zeigt auf die weisse Wiese. Die Schneedecke ist zertrampelt, auf Laien wirkt es, als hätte sich eine Schulklasse zur Winterwanderung versammelt.
Die meisten Schweizer Rothirsche leben in den Alpen, Graubünden, Tessin, Wallis. Doch der Kanton Zürich holt auf. Anfang der Nullerjahre schätzte die Jagdverwaltung den Bestand auf knapp 30 Tiere, 2015 auf etwa 165. Die Rothirsche leben an zwei Orten: Auf der Albiskette sind es ungefähr 25 Tiere, und um den Tössstock, im Grenzgebiet zwischen Zürich, Thurgau und St. Gallen, circa 140. Nicht alle haben Freude an der Rückkehr des Hirsches ins Mittelland. Im Aargau forderten Förster den Abschuss der Hirsche, kaum waren 2013 vereinzelte Tiere gesichtet worden.

Der Grund: Bei viel Rotwild drohen den Bäumen Schäden. Man traf sich in einem Hirsch-Forum zum Austausch. Im Tössbergland diskutiert man ebenfalls über «Artenmanagement», 2014 gab es ein erstes Treffen der betroffenen Jagdverwaltungen. Die Schäden seien «(noch) nicht dramatisch, aber zunehmend», befand man.
In den Stapfen des Vordertiers
Bruno Wagner geht den Berg hinunter, Hündin Mira wuselt durch den Schnee. Am Waldrand führt eine einzelne Fährte durch das Weiss. «Das waren zwei Hirsche», sagt Wagner, «der hintere hat die Fussstapfen des Vordermanns benutzt». Der Hirsch sei ein schlaues Tier, erklären die Jäger, um ihn zu jagen, brauche es Geschick und Geduld.
Nächster Halt ist das Jagdhaus auf einer Lichtung. Ein Hirschgeweih unter dem Giebel, darunter die Jahreszahl der Erbauung: 1995. Drinnen hängen Trophäen an der Wand. Eine Schwarzweiss- Aufnahme zeigt sechs Waidmänner und eine tote Hirschkuh. «Schon unsere Grossväter haben Hirsche erlegt, das war aber selten», sagen die Jäger.
Seit der Jahrtausendwende hat sich das geändert. 2000 sei der erste Abschuss der Neuzeit gelungen, erzählt Bruno Wagner, heute habe fast jeder in der Gesellschaft einen Hirsch geschossen. «Mehrheitlich Kahlwild», präzisiert sein Bruder. Kahlwild? So würden die weiblichen Tiere genannt, diese zu bejagen, sei besonders anspruchsvoll.
Inzwischen hat die Dämmerung eingesetzt. Ob die Hirsche sich zeigen? Ein Versuch ist es wert. Vom Jagdhaus aus zieht die Gruppe über einen verschneiten Waldweg ins Tal. Der Schnee dämpft die Geräusche, der Jäger macht auf Spuren aufmerksam: Hier sprang ein Reh, dort ging ein Hirsch, das könnte ein Fuchs gewesen sein. Blicken lässt sich keines der Tiere, es ist wohl zu kalt. Unten im Tal steigt eine Rauchsäule auf, sie sieht aus wie ein Wattebausch. «Das ist der Hof von Horn Heiri, dem Metzger», sagt Walter Wagner.
Man überquert den Bach und ist im Thurgau. Heiri Keller und seine Frau bitten zum Kaffee. «Hier, das hilft beim Aufwärmen», sagt Horn Heiri und schiebt eine Flasche Schnaps über den Tisch. Ein grosses Hirschgeweih an der Wand dient als Hutständer. «Alleine einen Hirsch zu metzgen, dauert länger als einen Tag», sagt Keller. Heute überlässt Horn Heiri das Metzgen den Jüngeren. Zum Beispiel Esther Binder, die er ausgebildet hat. Sie ist die einzige Frau in der Jagdgesellschaft und übernimmt das Metzgen. Der grösste Teil des Sternenberger Wildes geht an das Restaurant Sternen. Weil dieses kürzlich abgebrannt ist und das Provisorium erst im April öffnet, lädt Esther Binder kurzerhand zu sich nach Hause ein. Es gibt selbst gemachte Mostbröckli vom Sternenberger Rothirsch. Endlich ist der Hirsch zum Greifen nah.
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Auf Pirsch nach dem Hirsch
Ein «Tier des Jahres» zu Gesicht zu bekommen, ist schwer. Eines zu essen weniger. Um den Zürcher Tössstock leben 140 Rothirsche.