Auf zum Dörfchen hinter Mordor
Die erste Etappe unserer Grand Tour führt an einen Ort mit viel Wasser. Und wir lernen: Tipps von Mensch zu Mensch schlagen Google.

Es geht los! Das Auto ist getankt, die Destinationen sind bestimmt. Die Grand Tour des Bellevues startet endlich und verläuft nordwärts. Vorbei an der Kyburg und Marthalen bis zum Rheinfall. Grösster Wasserfall Europas. Ein unglaublicher Start also.
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Bevor wir uns in den touristischen Bacchanal stürzen, gehts zuerst ins Zürcher Oberland. Erster Halt: Agasul. Dieser Name. Man kann ihn nicht genug sagen. Agasul. Agasul. Agasul. Klingt wie ein Dörfchen hinter Mordor. Ist aber ein Weiler vor Kyburg. 20 Kilometer von Zürich entfernt, 60 Einwohner, doppelt so viele Kühe, ein Hofladen mit Klingel für eine Fleischberatung (doch der Bauer kommt auch nach zweimaligem Klingeln nicht).
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Und da steht das Restaurant Post, darin fünf Tische, zig Wappenscheiben und Heidi Berger, die Wirtin. Sie begrüsst jeden Gast mit Händedruck. Der Grossvater hat das Restaurant um 1936 gekauft, nun wirtet sie. Wie läufts? «Heute und morgen haben wir schon noch offen.» Berger sitzt und liest Zeitung, vor sich Tee und Fliegenklappe. Sie erzählt, wie das nur Beizerinnen können. Man hört zu, als plötzlich Edi eintritt. Er ist durch den Wind, braucht ein Bier. Er hat gerade eines seiner Schafe abgetan, es war krank. Er hätte es schon gestern Abend gemacht, doch er musste gestern Morgen sein Auto vorführen, da konnte er die Pistole nicht im Auto lassen: «Was würde der Mechaniker von mir denken mit einer Pistole im Auto?» Allerdings. Heute Morgen aber hat er wie an den restlichen 364 Tagen im Jahr die Pistole dabei. Armes Schaf.
Heidi Berger erzählt von den Touristen. Sie kommen nicht hierher, sie fahren vorbei, wollen alle nach Kyburg. Ein Fehler. Bergers Welt ist toll. Übrigens, die Schale kostet hier 3.30 Franken. Das grosse Bier 5.40 Franken.
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Nun also Kyburg. Das Schloss mitten in der Anflugschneise. Früher haben sie hier nur aufgrund des Geräusches den Südafrikaner erkannt (natürlich den Flieger aus Kapstadt!). Dieses Talent ist heute versiegt. Wegen der Flüsterjets. Die Kyburg aber, die steht noch. Bald 1000 Jahre schon. Parkplätze hat es bis in die Felder hinauf. Das Schloss muss ein Kracher sein. Eine Thailänderin verlässt es gerade: «It is nice.» Das trifft es.
Winterthur. Wie viele Buchstaben verdient eine B-Stadt? Auf nach Marthalen.
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Ha! Diese Provokation war geradezu flegelhaft. Item. Es ist heiss, der Körper braucht eine Abkühlung. Google soll helfen, idyllisch soll es sein, die sozialen Medien führen zu den Walcheweiher direkt hinter Winterthur. «Unglaublich schön», steht bei den Nutzerkommentaren, «leider oft überlaufen.» Genau das Richtige für uns. Wir wollen Touristen sehen. Am liebsten mit Selfiestock. Und dann das: Niemand hier. Nur Karpfen im Wasser. Das Auge würde hier nie reinspringen, Schlingpflanzen schmücken den Weiher. Doch der «Landbote» hat jüngst dargelegt, dass das für die Wasserqualität spreche. Lassen wir gelten.
Der distinguierte Road Tripper fährt Überland, Autobahnen werden gemieden, die Feldwege gesucht. Wer winkt, dem wird zurückgewinkt. Das liebste Zeichen: der eine Finger, kurz vom Lenkrad gehoben. Es wird quittiert. Immer. Grossartig.
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Marthalenkann man nicht verfehlen. Es ist das Dorf der Riegelhäuser. Rote Riegelhäuser. Überall. Denkmalgeschützt. Früher haben sie die Balken noch mit Ochsenblut bestrichen, heute ist das hundsgewöhnliche Farbe. Doch auch hier: Wo sind die Touristen? Das soll ein Highlight auf der Grand Tour sein? Es ist niemand zu sehen, ausser das Ehepaar Von Gunten, es spaltet Holz. Sie legen ihren Gehörschutz ab und erzählen, dass die Touristenbusse morgens um zehn kommen. Luzerner Nummern haben sie. Meist mit Asiaten gefüllt. Sie kleben an den Scheiben und fotografieren. «Die steigen kaum aus», sagt das Ehepaar, «haben wohl keine Zeit.» Dann geben sie noch einen Badetipp: «Der Husemersee ist der schönste in der Gegend.» Wir werden das prüfen.
Schön auch die Toiletten auf den Landgasthöfen wie dem Rössli in Marthalen. Es hat Fliegen im Pissoir. Der erfahrene Schiffer weiss um ihre Bedeutung.
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Wir kommen zur Prüfung der Glaubwürdigkeit des Ehepaars Von Gunten. Der Husemersee liegt mitten im Wald; erst kommt man an einem dem Walche-Weiher ähnlichen Tümpel vorbei, etwas zieht sich in einem zusammen, doch ein paar Hundert Meter weiter tut sich plötzlich ein kräftiges Grün auf: der Husemersee. Die Bäume spiegeln sich im Wasser, die Wolken auch. Fantastisch. Skandinavisch. Geheimtipp. Wow!
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Ein Onkel hat einmal gesagt, an den Rheinfall geht der Schweizer nur, wenns geregnet hat – es ist seit Tagen trocken. Egal. Auf den Parkplätzen stehen Cars an Cars. Die Chauffeure pennen, die Reisegruppen fotografieren. Holländer, Deutsche, Italiener, Japaner, Tschechen. Endlich Touristen. Vishar aus Delhi ist hier. Er lässt sich fotografieren, legt die Brille ab, richtet die Haare, zieht die Hose hoch. «Ich war auf dem Jungfraujoch, das ist auch schön, doch hier ist es noch schöner», sagt er. Ui. «Es ist der schönste Ort, den ich je gesehen habe.» Uiuiui. Und dann, mit ordentlich Anlauf: «Die Schweiz ist der schönste Ort auf der Welt.» Lob aus dem Ausland. Tut gut. Als hätte ich selbst an diesem Wasserfall, an diesem Land mitgebaut. Wir können beruhigt schlafen gehen. Die Schweiz funktioniert.
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