Ausgesorgt mit 40
Die Fire-Bewegung propagiert ein neues Lebensmodell: Schnell viel Geld sparen – und dann einen bescheidenen Ruhestand geniessen. Oliver Noelting macht es vor.

Wenn Oliver Noelting in Rente ist, will er vor allem Skateboard fahren. Keine klassische Disziplin für Ruheständler, aber Noelting wird ja auch kein klassischer Rentner. Er wird dann kein langes Arbeitsleben hinter sich haben und keine Midlifecrisis. Wenn alles gut geht, kann sich Noelting nach nicht einmal 15 Jahren Arbeitsleben zur Ruhe setzen. Er wäre dann Anfang 40.
Knapp zehn Jahre sind es bis dahin noch. 29 Jahre alt ist Noelting jetzt. Gross, schlank, Ziegenbart und Schlabbershirt. Man könnte ihn sich gut in einem Philosophieseminar vorstellen, Noelting ist aber Medieninformatiker, er hat eine Teilzeitstelle als Softwareentwickler, dazu arbeitet er frei oder auch gar nicht, so wie an diesem Tag.
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Selection 2018 – ein Jahresrückblick

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Die Sonne scheint, Noelting sitzt auf dem Balkon der Wohnung, die er mit seiner Freundin gemietet hat. Zwei Zimmer in einem Fünfzigerjahrebau in Hannover-List. «Mehr brauchen wir nicht», sagt Noelting. Ein Satz, der auch die Idee mit der Rente erklärt, genauso wie den Weg dorthin.
Oliver Noelting ist Teil einer neuen Bewegung, die sich «Fire» nennt, kurz für «Financial Independence, Retire Early», auf Deutsch: finanzielle Unabhängigkeit, frühe Rente. Anstatt die Stationen einer üblichen Erwerbsbiografie abzuklappern, wollen die Fire-Anhänger die Lebensarbeitszeit auf zehn oder zwanzig Jahre eindampfen, die Rente dafür auf fünf oder sechs Jahrzehnte ausdehnen, finanziert durch passives Einkommen.
Im 19. Jahrhundert gab es bereits Privatiers und Rentiers, die allein von ihrem, meist geerbten, Vermögen lebten. Im Unterschied dazu haben sich die Fire-Anhänger ihr Geld selbst erarbeitet. Oft reicht es nicht für Jachten und schnelle Autos, dafür aber für ein moderates Leben ohne den Zwang zu arbeiten.
Die 4-Prozent Regel geht davon aus, dass man auf lange Sicht 4 Prozent Rendite für investiertes Vermögen erwirtschaften kann.
Als Oliver Noelting das erste Mal von Fire hörte, war er in einer Lebenskrise. Sein Studium hatte er fast abgeschlossen, die Aussicht aber, von nun an acht Stunden pro Tag an einem Schreibtisch zu sitzen, erschreckte ihn. «Dieses Hamsterrad wollte ich nicht», sagt er. Ein geregeltes Gehalt, Weihnachtsgeld, all das war ihm nicht wichtig. Als Student lebte er günstig, mehr wollte er nicht. Lange habe er diese Sparsamkeit auf der einen und die finanzielle Unabhängigkeit auf der anderen Seite nicht zusammengebracht, sagt Noelting. Doch dann kam Mr. Money Mustache.
Unter diesem Namen schreibt ein kanadischer Programmierer seit 2011 einen Blog, in dem er darüber berichtet, wie er es geschafft hat, mit Anfang 30 in Rente zu gehen. Mr. Money Mustache ist zu einer Art Vorreiter der Fire-Bewegung geworden, er hat Fans auf der ganzen Welt, zu denen auch Noeltings ehemaliger Mitbewohner gehörte. «Ich habe immer gesagt: Rente mit 30, das ist Quatsch», sagt Noelting. Doch auf Drängen seines Mitbewohners surfte auch er irgendwann auf die Site von Mr. Money Mustache. «Es hat sofort Klick gemacht. Auf einmal hat sich alles zusammengefügt», sagt Noelting.
Mr. Money Mustaches Ruhestand liegt die 4-Prozent-Regel zugrunde, eine Art Grundstein der Fire-Bewegung. Sie geht davon aus, dass man bei kluger Anlage und auf lange Sicht 4 Prozent Rendite für investiertes Vermögen erwirtschaften kann. Dieses Geld kann man also entnehmen, ohne das Grundkapital anzutasten.
Jeder Euro, den er mehr einnimmt, bringt ihn schneller ans Ziel.
Längst gibt es Sites im Internet, die jedem anhand dieser Regel ausrechnen, wie viel Vermögen er braucht, um von den Zinsen leben zu können – und das abstrakte Konzept «Rente» verwandelt sich so in etwas Greifbares. Der Ruhestand hängt nicht mehr vom Lebensalter ab, sondern von einem Betrag, den es zu erreichen gilt.
Im Fall von Mr. Money Mustache stand am Ende ein Betrag von 600'000 Dollar. Nach der 4-Prozent-Regel bekommt er so 24'000 Dollar im Jahr, nicht viel, aber genug für ihn und seine Familie, sagt er, vorausgesetzt, man hat kein Auto, kauft nicht ständig neue Sachen und ist sparsam.
Oliver Noelting erkannte sich in all dem wieder. Nach dem Vorbild von Mr. Money Mustache errechnete er seinen Geldbedarf, das Ergebnis: 300'000 bis 400'000 Euro. Vier Jahre ist das her, seitdem begleitet ihn eine Excel-Liste auf seinem Weg zur finanziellen Unabhängigkeit, grün die Einnahmen, rot die Ausgaben, gelb die Sparquote.
2017 lag die im Schnitt bei 70 Prozent, von seinen etwa 2400 Euro Einnahmen wanderten also jeden Monat etwa 1500 Euro in ETF-Fonds und Staatsanleihen. 100'000 Euro hat Noelting so schon angespart. Jeder Euro, den er mehr einnimmt, bringt ihn schneller ans Ziel, weshalb es in seiner Excel-Liste auch eine Spalte gibt, in die er Flaschenpfand und gefundenes Geld einträgt. Gleichzeitig ist jeder ausgegebene Euro ein Rückschritt, weshalb Noelting spart, so gut es geht.
Freiheit vor Sicherheit
Seine Sparsamkeit hat Noelting schon in mehreren Radiointerviews, Fernsehbeiträgen und Zeitschriftenartikeln eingebracht. Meist wird er als Sparfuchs dargestellt, als einer, der jeden Pfennig zweimal umdreht. Noelting ärgert das. Einmal, weil es nicht stimmt: Er geht mit Freunden aus, er kauft im Durchschnitt für 100 Euro im Monat Essen, geht für 40 ins Restaurant und fährt in Urlaub. Er lebt nicht wie ein Mönch, aber immer noch wie ein Student, das ist der Unterschied.
Es geht nicht um Sparsamkeit um jeden Preis, sondern um Ausstieg aus dem Konsumwahnsinn. Noelting fährt Rad, nicht nur weil es Geld spart, sondern auch, weil es fit hält und er die Umwelt schonen will. Er kauft Kleidung gebraucht, weil es viel zu viel davon gibt. Und ein neues Handy gibt es erst dann, wenn das alte kaputt ist. Die Rente und die finanzielle Unabhängigkeit sind am Ende nur eine Konsequenz aus diesem Lebensstil.
Teilzeit, Homeoffice, Sabbaticals, alles ist möglich, aber den Fire-Anhängern ist das nicht genug.
Wie viele Fire-Anhänger es in Deutschland gibt, lässt sich schwer sagen. Es gibt keinen Verein und keine zentrale Organisation. Auf Facebook aber entstehen ständig neue Gruppen, in denen sich Interessierte treffen und darüber diskutieren, ob 4 Prozent Zinsen nun realistisch sind oder nicht. Längst gibt es Treffen im echten Leben, in den USA kommen teils Tausende zu solchen Events.
Vor allem bei jungen Menschen hat Fire Erfolg. Es sind Endzwanziger wie Oliver Noelting, die schon am Anfang ihres Arbeitslebens darüber nachdenken, wie sie sich wieder aus dieser Lebensphase verabschieden. Das erscheint auf den ersten Blick vielleicht seltsam, propagieren doch Firmen wie Google, aber auch Start-ups, die Verschränkung und Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit, und locken damit junge Mitarbeiter.
Teilzeit, Homeoffice, Sabbaticals, alles ist möglich, aber den Fire-Anhängern ist das nicht genug. Ihnen geht es nicht nur um die Rente, es geht um ein anderes Leben, abseits von Konsum und der Pflicht zu arbeiten. Grenzen des Wachstums, Zeit statt Geld, bedingungsloses Grundeinkommen: All diese wirtschaftskritischen Ansätze werden bei Fire verquirlt – nur um sie dann mithilfe von ETF-Fonds, Banken und Immobilienspekulation in die Tat umzusetzen. Kapitalismuskritik mit Kapitalismus also.
«Ich habe gedacht: Das kann doch nicht alles gewesen sein? Das ist mein Leben?»
Für Deutschland ist Ankur Garg so etwas wie ein Vorreiter für Fire. Der 37-Jährige ist schon seit ein paar Jahren finanziell unabhängig. Garg sieht aus wie ein Banker im Urlaub, gepflegter Dreitagebart, aufgeknöpftes Hemd. Gerade kommt er zurück von einer spontanen fünftägigen Fahrradtour. «Dass ich heute finanziell unabhängig bin, war nie so geplant», sagt Garg. Er ist 22, als er von Delhi nach Aachen kommt, nach dem Abschluss in Elektrotechnik fängt er bei einem Stromkonzern an, Garg erstellt Bedarfsanalysen, er verdient gut, ist aber unzufrieden, übergewichtig und gestresst.
«Ich habe gedacht: Das kann doch nicht alles gewesen sein? Das ist mein Leben?» Und so überlegt er, wie er passives Einkommen generieren könnte. Die Mieten in München steigen, die Zinsen dagegen sind niedrig, 2009 kaufen er und seine Frau eine Wohnung, 2012 eine weitere auf Kredit, die sie vermieten. Auf einmal haben sie passives Einkommen, das Paar kauft noch eine Wohnung, noch eine und noch eine, grösstenteils auf Kredit, sie vermieten sie und nach Abzug der Zinsen bleibt genug Geld übrig, um theoretisch davon zu leben, sagt Garg.
Seinen Job hat er aufgegeben, stattdessen betreibt auch er einen Blog über finanzielle Unabhängigkeit. Immer öfter schreiben ihm Menschen und bitten um Tipps. «Ich antworte dann immer, dass es kein Allgemeinrezept gibt», sagt Garg. «Wir hatten sehr viel Glück mit den Immobilien, heute ist die Situation schon ganz anders.»
«Fire geht es darum, Kontrolle über seine Finanzen zu bekommen und darüber, was einem wirklich wichtig ist im Leben.»
Wirklich in Rente ist Garg ohnehin nicht. Er kümmert sich um die Wohnungen, Aktien und Anleihen. «Nachdem der Zwang nicht mehr da ist, macht mir die Arbeit Spass.» Auch Oliver Noelting will nach dem Ruhestand nicht nichts machen. Er möchte Skateboard fahren und an Projekten arbeiten, die ihn interessieren. Fire, sagt er, könne das Leben von jedem besser machen, auch wenn man nicht gleich in Rente geht: «Es geht darum, Kontrolle über seine Finanzen zu bekommen und darüber, was einem wirklich wichtig ist im Leben.»
Angst vor einer Krise hat er nicht. Würden die Zinsen unter 4 Prozent fallen, hätte er dank seines Ersparten noch Zeit, wieder einen Job zu suchen. Doch was, wenn er krank wird? «Mir ist Freiheit wichtiger als Sicherheit», sagt Noelting.
Bleibt die Frage: Ist es nicht unmoralisch, dass einige von den Zinsen ihres Ersparten leben können, während andere bis an ihr Lebensende arbeiten müssen? Nein, sagt Noelting: «Unmoralischer wäre es, weiter zu arbeiten, mit einem dicken Auto die Luft zu verpesten und ständig nur zu konsumieren.» Natürlich sei es irre, dass er mit 40 nicht mehr arbeiten müsse. «Noch irrer ist aber, dass nicht viel mehr Leute so früh in Rente gehen wie ich.»
Tipps, Rechner und Links
Oliver Noelting schreibt regelmässig zum Thema und gibt Tipps auf seiner Website: frugalisten.de. Sie finden dort auch einen Bedarfsrechner. Eine Alternative dazu ist: fireagecalc.com. Fire-Anhänger mit eigener Website gibt es auch in der Schweiz. Marc Pittet möchte beispielsweise 1,25 Millionen Franken anhäufen und dann von 4200 Franken monatlich gemeinsam mit seiner Frau leben. Er berichtet unter: mustachianpost.com. Der 22-jährige Thomas Kovacs betreibt nicht nur eine Website, sondern auch einen Youtube-Channel: sparkojote.ch.
Dieser Text erschien erstmals am 6. Juli 2018.
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