«Für einen Schwarzen ist jeder Ort ein Starbucks»
Zwei Männer werden festgenommen, weil sie nichts konsumierten. Der Fall zeigt, wie klein der öffentliche Raum für Afroamerikaner heute geworden ist.

Bis zur Eskalation dauerte es zwei Minuten. Als die Starbucks-Angestellte in Philadelphia zu Rashon Nelson sagte, er dürfe die Toilette nicht benützen, dachte er sich nicht viel. Als anschliessend die Managerin kam und ihn und seinen Kollegen Donte Robinson fragte, ob sie ihnen weiterhelfen könne, dachte er sich ebenfalls nichts. Nein, antwortete Nelson, sie warteten auf einen Bekannten, mit dem sie gleich ein Treffen hätten. Selbst als kurz darauf Polizisten den Laden betraten, sagte sich Nelson noch: Die sind nicht wegen uns hier. Dann steuerten die Beamten direkt auf sie zu. In Handschellen führten sie Nelson und Robinson, beide 23 Jahre alt, beide schwarz, hinaus in einen Streifenwagen.
Es sind zwei Minuten, die viel aussagen über das Amerika im Jahr 2018. Festgehalten wurden sie Mitte April von einem anderen Gast, mit dessen Handy. Das Video war auf allen TV-Sendern zu sehen, es wurde im Netz millionenfach angeklickt. In einem Interview mit ABC sah man Nelson und Robinson, zwei schüchterne junge Männer, wie sie nach einer Erklärung suchten, warum die Starbucks-Managerin, eine weisse Frau, die Notrufnummer der Polizei wählte, kurz nachdem sie den Laden betreten hatten. Starbucks entschuldigte sich bei ihnen und kündigte an, Ende Mai seine 8000 US-Filialen für einen Nachmittag zu schliessen, um alle 175'000 Angestellten für Rassismus zu sensibilisieren.
Alltag für schwarze Männer
Natürlich erleben Schwarze nicht nur in Starbucks-Filialen Diskriminierung. «Für einen Schwarzen ist jeder Ort ein Starbucks», schrieb der Autor Bryan Washington dieser Tage bei Buzz Feed. Wo man hingehe, es seien immer die gleichen Blicke, die gleichen Fragen: Warten Sie auf jemanden? Haben Sie eine Einladung? Konsumieren Sie etwas? In den Medien häuften sich zuletzt die Erlebnisberichte: aus der Fast-Food-Kette wie aus der Chanel-Boutique, aus dem Fitnesscenter wie aus der Bank. «Am Erschütterndsten an der Episode in Philadelphia ist, dass etwas, was für schwarze Männer Alltag ist, für weite Teile Amerikas offenbar als News daherkommt», schreibt Washington.
News sind es, weil Starbucks eben nicht bloss ein Unternehmen ist. Die Kaffeekette versteht sich als «dritter Ort», als Mittelding zwischen Wohnzimmer und Arbeitsplatz, mit bequemen Sesseln, Internet und Steckdosen, an denen man seine Geräte aufladen kann. In den USA füllt sie damit mehr als anderswo eine Lücke. Schon seit Jahren wird in Amerikas Städten der öffentliche Raum immer kleiner, es gibt immer weniger Orte, an denen sich die Menschen ohne Konsumzwang hinsetzen, das WC benützen, sich mit jemandem treffen können. Bibliotheken, öffentliche Toiletten, Gemeinschaftszentren: Vieles wurde weggespart, aus der Stadt verdrängt oder ausgelagert an Private. An Unternehmen wie Starbucks. Der Konzern steht wie kein anderer für die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums.
Video: Starbucks hat eine Welle der Empörung ausgelöst
Diese Aufnahmen haben in den USA für Furore gesorgt. Sie zeigen wie zwei afroamerikanische Männer in einem Starbucks-Café in Philadelphia festgenommen werden. Video: AFP, Storyful
Und genau damit findet sich Starbucks in einer Grauzone wieder: Was sind die Regeln an diesem «dritten Ort»? Was ist erlaubt, was nicht? Wie lange darf man einfach sitzen bleiben, ohne etwas zu konsumieren? Bryant Simon ist Historiker an der Temple University in Philadelphia. Für ein Buch über Starbucks besuchte er mehr als 300 Filialen in den USA. Manchmal blieb er nur kurz, oft aber verbrachte er ganze Nachmittage in einem der Sessel. Manchmal trank er Kaffee, manchmal nicht. Simon ist weiss. «Während meiner vielen Aufenthalte gab es nur zwei Gruppen von Leuten, die regelmässig angesprochen und zurechtgewiesen wurden», sagt er: «Obdachlose. Und Schwarze.»
«Die Polizisten hörten zu, als Trump sagte, sie sollen bei Festnahmen weniger Rücksicht nehmen.»
Die Regeln in der Zwischenzone scheinen nicht für alle gleich zu sein. «Als Weisser kann ich stundenlang herumsitzen, ohne etwas zu konsumieren. Ich kann jederzeit die Toilette benützen. Als Schwarzer muss ich etwas kaufen, sonst bin ich gleich verdächtig», sagt Simon. Ein Problem sei das auch deshalb, weil sich Starbucks immer als besonders progressives, postmodernes Unternehmen darstelle, das nicht nur ein Produkt verkaufe – Kaffee –, sondern vielmehr ein Gemeinschaftsgefühl. «Mit diskriminierenden Umgangsformen geht das schlecht zusammen.»
Gutgläubiges Starbucks-Milieu
Teile der US-Gesellschaft hingen aber in diesen Fragen immer noch einer Illusion nach, sagt Simon. Das «Starbucks-Milieu», wie er es nennt – die kreativen, kosmopolitischen Amerikaner, die sich den Kaffee für vier Dollar leisten könnten –, glaube nur zu gerne, dass sich der tief verankerte Rassismus mit ein paar Gesten und Slogans aus der Welt schaffen lasse. Sie applaudierten, als Starbucks 2014 seine Angestellten nach den Protesten gegen Polizeigewalt dazu aufrief, mit den Kunden über Rassismus zu sprechen. «Wir können diese Fragen als Gesellschaft aber nicht an Unternehmen auslagern», sagt Simon.
Und das ist nicht das Einzige, was sich aus dem Fall in Philadelphia ablesen lässt. Das Beispiel zeigt auch, wie rasch es geht, bis Weisse die Polizei rufen, wenn sie sich von Schwarzen belästigt oder bedroht fühlen. Anfang dieser Woche tauchte ein weiteres Video auf, diesmal aus Alabama, aus einer Filiale der Imbisskette Waffle House. Man sieht darin, wie drei Polizisten eine schwarze Frau zu Boden ringen. Die Beamten halten die Frau auch dann noch fest, als ihr Kleid verrutscht ist und sie halb nackt daliegt, mit entblössten Brüsten. «Ihr erstickt mich», schreit die Frau. Der Grund für den Vorfall: Sie hatte vom Management eine zusätzliche Plastikgabel verlangt – und dafür nicht bezahlen wollen.
Diese Fälle seien auch deshalb so entmutigend, weil sie derart oft vorkämen, sagt Sabiyha Prince, Stadtanthropologin in Washington. Sie forscht in der Hauptstadt über die Folgen der Gentrifizierung für die afroamerikanischen Einwohner, und Studienobjekte gibt es genug: Viertel um Viertel wurde umgebaut und aufgewertet; selbst in Gegenden, in denen vor Jahren kein einziger Weisser hingezogen wäre, schieben heute junge, weisse Eltern ihre Kinderwagen übers Trottoir, die Yoga-Matten unter dem Arm. Gerade in solchen Gegenden geschehe es oft, dass weisse Anwohner wegen nichtiger Gründe die Polizei anriefen, sagt Prince. Weil sie sich über Lärm aufregten oder weil sich in der Nähe ihres Hauses Leute aufhielten, «die in den Augen der Anrufer nicht dorthin gehören».
«Man weiss als Afroamerikaner, wo man willkommen ist und wo nicht.»
Als schwarze Person kennt man das Gefühl, in Amerika irgendwo nicht hinzugehören, nur zu gut. Als Prince in Washington aufwuchs, habe man sich noch an die Zeit erinnert, in der im Quartier Georgetown viele Schwarze lebten, sagt sie. Heute ist Georgetown ein Nobelviertel. Schwarze sieht man dort kaum mehr. «Man weiss als Afroamerikaner, wo man willkommen ist und wo nicht, welche Orte man besucht und welche man besser meidet», sagt Prince.
Zu den Schikanen und Demütigungen des Alltags kommen die schlimmeren Fälle: die Polizeigewalt. 65 Schwarze wurden alleine in diesem Jahr von Polizisten getötet. So wie Stephon Clark, erschossen im März im Hinterhof des Hauses seiner Grosseltern in Sacramento. Oder so wie Saheed Vassell, erschossen Anfang April von Polizisten in seiner Nachbarschaft in New York. «Da staut sich viel Angst und Wut auf», sagt Prince. «Die Folgen, die all diese Fälle für die Afroamerikaner haben, die grossen und die kleinen, werden unterschätzt.»
Alltagsrassismus und Trump
Die Diskriminierungen, die Polizeigewalt, all dies verschwand auch unter dem schwarzen Präsidenten Barack Obama nicht – im Gegenteil. Doch unter Donald Trump, sagt Prince, habe sich das Klima noch verschlechtert. «Die Polizisten hörten zu, als Trump ihnen von einem Podium sagte, sie sollten bei Festnahmen weniger Rücksicht nehmen. Sie hörten die Botschaft dahinter, wenn der Präsident sagt: Es ist okay, Gewalt anzuwenden.» Und sie hörten auch zu, wenn Trump afrikanische Länder als «shithole countries» bezeichne, als Dreckslöcher. Man könne nicht über Alltagsrassismus sprechen, sagt Prince, und diesen Kontext ausblenden.
Um eine Ahnung von diesem Kontext zu erhalten, braucht es nicht viel. Manchmal reichen zwei Minuten in einem Starbucks.
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