Dänemark erklärt Ausländerviertel zu «Ghettos»
Krippenzwang, Sozialhilfekürzung, Umsiedlung: Die dänische Regierung stuft 28 Stadtteile als «Ghettos» ein – mit Folgen für die Bewohner.

Die dänische Regierung hat diese Woche 28 Wohnviertel im Land offiziell zu Ghettos erklärt. Die Nachbarschaften tauchen auf der sogenannten Ghetto-Liste auf, die das Wohnungsbauministerium in Kopenhagen seit einigen Jahren Anfang Dezember veröffentlicht. Der Regierung zufolge dient die Liste dazu, entstehende Parallelgesellschaften zu identifizieren und bestehende bis spätestens zum Jahr 2030 aufzulösen.
Ein entsprechendes Gesetz trat Anfang dieses Jahres in Kraft. Betroffen sind vorwiegend muslimisch geprägte, ärmere Migrantenviertel. Kritiker werfen der Politik die Stigmatisierung der Wohngegenden und Diskriminierung der Bewohner vor.
Kitapflicht für «Ghetto-Kinder»
Der neue Wohnungsbauminister Kaare Dybvad von den Sozialdemokraten hatte im Juni erst erklärt, den historisch vorbelasteten Begriff «Ghetto» nicht mehr verwenden zu wollen. Sowohl im Gesetzestext als auch auf der Website seines Ministeriums taucht er allerdings noch immer vielfach an hervorgehobener Stelle auf.
Das Gesetz definiert fünf verschiedene Kriterien. Ein Stadtviertel wird dann offiziell als Ghetto klassifiziert, wenn drei der fünf Kriterien zutreffen: So müssen zum Beispiel mehr als die Hälfte der Einwohner Zuwanderer aus nicht westlichen Ländern sein. Überprüft wird auch, ob die Arbeitslosigkeit 40 Prozent übersteigt, ob mehr als 60 Prozent der Erwachsenen nur die Grundschule absolviert haben, ob das Durchschnittseinkommen bei weniger als 55 Prozent der gesamten Region liegt oder aber ob die Zahl der verurteilten Straftäter das Dreifache des nationalen Durchschnitts übersteigt.
Polizisten patroullieren in Mjolnerparken.
Die Klassifizierung als Ghetto hat direkt Auswirkungen für die dort lebenden Bewohner. Eine der umstrittensten Massnahmen zur Integration, die das neue Gesetz vorsieht, ist die Kita-Pflicht für die Bewohner. Von ihrem ersten Geburtstag an müssen dem Gesetz zufolge «Ghetto-Kinder» für mindestens 25 Stunden die Woche von ihren Eltern getrennt werden und in einer Kita Unterricht in der dänischen Sprache, aber auch in «dänischen Werten» und Traditionen erhalten. Familien, die ihre Kinder zu Hause behalten, werden die Sozialleistungen gekürzt. Ausserhalb der Ghettos kann jeder Bürger frei entscheiden, ob er sein Kind vor dem sechsten Geburtstag in Vorschule oder Kindergarten schickt.
Stadtviertel, die fünf Jahre hintereinander auf der Liste stehen, werden als besonders hartnäckige Ghettos eingestuft. Für solche Viertel sieht das Gesetz den Abriss von Sozialwohnungsblocks und die Umsiedlung von Bewohnern vor, um die Parallelgesellschaften zu beenden. Dänische Zeitungen berichten von etwa 11'000 Menschen, die umgesiedelt werden sollen.
Dänemarks Sozialdemokraten hatten im vergangenen Jahr, damals noch in der Opposition, für den «Ghetto-Plan» gestimmt, aus dem dann das neue Gesetz hervorging. Nach der Machtübernahme der Sozialdemokraten im Juni hatte der neue Wohnungsbauminister Dybvad dann in einem Interview erklärt, er befürworte die Integrationsmassnahmen, wolle aber den Begriff «Ghetto» nicht mehr benutzen, da er historisch vorbelastet sei, sowohl durch die jüdischen Ghettos der Nazizeit als auch durch die Darstellung als Nester der Gewalt in den amerikanischen Städten der US-Fernsehserien. Sowohl sein Ministerium als auch die dänischen Medien sprechen allerdings weiter von «Ghettos» und der «Ghetto-Liste».
«Während wir verzweifelt versuchen, herauszuklettern, sind Sie es, die das Loch ständig tiefer graben.»Jugendliche in einem offenen Brief an Wohnungsbauminister Dybvad
Jugendliche des auch in diesem Jahr erneut zum Ghetto erklärten Wohngebiets Tingbjerg bei Kopenhagen forderten vergangene Woche in einem von der Zeitung «Politiken» veröffentlichten offenen Brief an den Minister, die Liste abzuschaffen, die sie als «Bürger zweiter Klasse» abstemple. Wenn Zusammenhalt und Integration das Ziel seien, heisst es, dann mache die Ghetto-Liste das Gegenteil: «Sie errichtet eine Mauer zwischen ‹uns› und ‹euch›. Sie identifiziert uns als Problem, als die, die in einem ‹schwarzen Loch› leben. Aber während wir verzweifelt versuchen, herauszuklettern, sind Sie es, die das Loch ständig tiefer graben.»
Es gehe am Ende nicht darum, Stadtteile wie Tingbjerg von der Ghetto-Liste herunterzuholen, antwortete Minister Dybvad am Wochenende per Interview. Es gehe vielmehr darum, «etwas für Tingbjerg zu tun».
Erstellt: 03.12.2019, 07:41 Uhr
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