Seine letzte Recherche
Musste der Journalist Jan Kuciak sterben, weil er Verbindungen der slowakischen Regierung zur 'Ndrangheta aufdeckte? Die italienische Polizei hatte vor der Gewaltbereitschaft der Mafia gewarnt.

Nach unermesslichem Reichtum sieht das Einfamilienhaus in der ostslowakischen Kleinstadt Trebisov nicht aus. Es ist etwas höher, etwas bunter als die Nachbarhäuser und geschützt durch eine Betonmauer statt der üblichen Thujahecken. Für die slowakische Polizei war diese Mauer kein grosses Hindernis. Donnerstagmorgen stürmte eine Spezialeinheit das Haus und durchsuchte es vom Keller bis zum Dachboden. Polizeipräsident Tibor Gaspar überwachte die Razzia persönlich. Mehrere Personen wurden festgenommen.
In Trebisov suchte die Polizei nach Hinweisen auf die Mörder des Journalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten Martina Kusnirova. Das Haus gehört einer Firma, hinter der ein Italiener namens Antonino Vadalà steht. Über ihn hatte Kuciak kurz vor seinem Tod für die Onlinezeitung Akutality.sk recherchiert, gemeinsam mit Journalisten des Recherchenetzwerks OCCRP (Organized Crime and Corruption Reporting Project).
Mitte vergangener Woche hatte Kuciak die vorläufigen Rechercheergebnisse dem Chefredaktor Peter Bardy vorgelegt. «Ich sagte ihm, er solle alles noch einmal überprüfen, dann wollten wir damit rausgehen», erzählt Bardy der Zeitung «Mlada Fronta Dnes». Dazu kam es nicht. Am Montag erhielt Bardy die Nachricht von der Ermordung des 27-jährigen Kuciak. Noch am selben Tag lenkte der kanadisch-slowakische Journalist Tom Nicholson den Verdacht auf die italienische 'Ndrangheta.
Tentakel bis in die Politik
Der Kanadier Nicholson lebt seit den 90er-Jahren in Bratislava und wurde vor sechs Jahren als Aufdecker eines riesigen Bestechungsskandals bekannt, der sogenannten Gorilla-Affäre. Aber weder damals noch in der Blütezeit der Kriminalität in den 90er-Jahren habe das organisierte Verbrechen in der Slowakei Reporter ermordet, schrieb Nicholson nach Kuciaks Tod auf Politico.eu: «Die italienische Mafia hingegen hatte niemals Bedenken.»
Das vermutet auch Drew Sullivan, Gründer und Redaktor der Rechercheplattform OCCRP, die mit Kuciak zusammenarbeitete: «Politiker oder Geschäftsleute morden meistens nicht, sie drohen. Die organisierte Kriminalität hingegen droht nicht, sie mordet sofort», sagt Sullivan gegenüber Redaktion Tamedia.
Kuciaks Leben konnten die Täter auslöschen, die Veröffentlichung seiner Recherchen konnten sie aber nicht verhindern: Sein Bericht geht nun um die Welt, obwohl er ihn nicht abschliessen konnte. Am Dienstag übernahmen fast alle slowakischen Print- und Onlinemedien Kuciaks letzten Artikel: «Die italienische Mafia in der Slowakei. Ihre Tentakel reichen bis in die Politik». OCCRP veröffentlichte die Recherche auf Englisch. Ringier Axel Springer, der Eigentümer von «Aktuality», liess den Text ins Deutsche übersetzen und auf die Websites von «Welt» und «Blick» stellen. Das Unfassbare des Doppelmordes könnte dadurch nicht erklärt werden, schreibt CEO Mark Dekan, «aber es zollt Jan Kuciak Respekt, der sein Leben riskiert hat, um diese Fakten ans Licht zu bringen». Ringier Axel Springer will in Bratislava einen international besetzten Newsroom einrichten, um Kuciaks investigative Arbeit weiterzuführen.
In diesem letzten Bericht beschrieb Kuciak, wie sich der aus Kalabrien stammende Antonino Vadalà in der Ostslowakei niederliess und sich über Freundschaften und Firmen Zugang zum innersten Machtkreis der Regierungspartei Smer verschaffte. Seine Geschäftspartnerin Monika Troskova, ein ehemaliges Model, wurde persönliche Beraterin von Regierungschef Robert Fico, ohne dass sie dafür Qualifikationen vorweisen konnte. Der Chef des nationalen Sicherheitsrates, Viliam Jasan, war zuvor Vadalàs Geschäftspartner.
Kuciak ging dem Verdacht nach, dass die Italiener in der Slowakei EU-Subventionen für Landwirtschaftsbetriebe und Biogasanlagen missbraucht und Geld gewaschen hätten. Beweise konnte er nicht mehr finden. Die von ihm beschriebenen Geschäftsfelder passen allerdings zu den Aktivitäten der kalabrischen 'Ndrangheta.
«Die organisierte Kriminalität droht nicht. Sie mordet.»
So gab es in der Vergangenheit viele Betrugsfälle im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Gelder, etwa für die Förderung erneuerbarer Energien. Millionenbeträge wurden aus den Strukturfonds der EU abgezweigt. Über Strohfirmen nahmen die Clans an Ausschreibungen teil, obschon sie die Kriterien nicht erfüllten. Aufträge und Subventionen erhielten sie dank ihrer politischen Verbindungen. Das Hauptgeschäft bleibt allerdings weiterhin der Drogenhandel, seit die Kalabresen in den 90er-Jahren den Sizilianern die Vorherrschaft entrissen haben und nun direkt mit den Kartellen in Kolumbien und Mexiko arbeiten.
Experten schätzen, dass die 'Ndrangheta über umgerechnet fast 60 Milliarden Franken jährlich umsetzt. Von allen Organisationen der italienischen Mafia ist sie die flexibelste, versierteste, globalste und mittlerweile mächtigste. Sie operiert mit Tausenden von Mitgliedern auf allen Kontinenten, nimmt in ihre rund 400 Clans, die sogenannten 'Ndrine, jedoch ausschliesslich Familienmitglieder auf – also Blutsverwandte. Deshalb kommt es viel seltener als bei Cosa Nostra oder der Camorra vor, dass die Justiz auf Kronzeugen zählen kann.
In Osteuropa ist die 'Ndrangheta seit dem Fall des Eisernen Vorhangs aktiv. Die neuen Demokratien schienen ein guter Ort dafür, Geld aus dunklen Geschäften zu investieren und zu waschen. Nun schreibt die Zeitung «Corriere della Sera» vom «Italian Job» in der Slowakei: die Namen der Verdächtigen, ihre Geschäftsmethoden, auch die Art der Exekution – vieles deute auf eine kalabrische Fährte hin: Der 42-jährige Antonino Vadalà hat denselben Familiennamen wie ein 'Ndrangheta-Clan. Wie nahe «Nino, der Italiener», wie sie ihn in der Slowakei nennen, diesem Clan steht, ist unklar. Blutsverwandtschaft soll nicht bestehen.
«Mit dieser Geschichte habe ich nichts am Hut. Das ist nur politische Spekulation.»
In der Slowakei lebt Vadalà seit 2002. Zuvor hatte die italienische Polizei mitgehört, wie er einem gesuchten Drogenhändler am Telefon Zuflucht anbot. Als er verhaftet werden sollte, war er schon weg. In der Kleinstadt nahe der Grenze zu Ungarn und der Ukraine baute er sich eine nette Existenz als Bauunternehmer auf. Auf seinem Facebook-Profil scheint er bemüht, alle Mafiaklischees zu erfüllen: offenes Hemd, Sonnenbrille, Goldkette, im Hintergrund ein weisser Lamborghini. Kurz vor seiner gestrigen Verhaftung nahm die Zeitung «La Repubblica» Kontakt mit ihm auf und erhielt eine Textbotschaft: «Mit dieser Geschichte habe ich nichts am Hut. Das ist nur politische Spekulation.»
Die Recherchen von OCCRP und «Aktuality» über die Aktivitäten der italienischen Mafia in der Slowakei begannen bereits vor 18 Monaten. Die Geschichte sei jedoch schwierig und bis zuletzt nicht in dem Stadium gewesen, in dem Verdächtige mit den Anschuldigungen hätten konfrontiert werden können, sagt Redaktor Drew Sullivan. Vor ein paar Wochen habe OCCRP eine Warnung der italienischen Polizei erhalten, dass «einige in diesen Fall verwickelte Personen auch töten». Die Information sei an Kuciak weitergeleitet worden. Allerdings habe der slowakische Journalist als nicht speziell gefährdet gegolten, sagt Sullivan.
Auch «Aktuality»-Chefredaktor Bardy versteht nicht, warum gerade Kuciak getroffen wurde. Der 27-Jährige habe keine geheimen Quellen, keine Informanten gehabt, sondern allgemein zugängliche Informationen aus dem Internet gesammelt: «Er war nicht der typische investigative Journalist.»
Eine Million auf dem Tisch
Am Mittwochabend versammelten sich fast 2000 Menschen im Zentrum von Bratislava zum Gedenken an Kuciak und seine Verlobte. Weitere Gedenkveranstaltungen sind für die nächsten Tage geplant. Die Trauer vermischt sich mit Wut auf eine Regierung, der Korruption im grossen Stil vorgeworfen wird. Bei der Medienkonferenz nach dem Mord liess Regierungschef Robert Fico eine Million Euro in gebündelten Geldscheinen neben sich auf einen Tisch legen. Bewacht wurde das Vermögen von schwer bewaffneten, vermummten Polizisten.
Fico versprach das Geld als Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen würden. Die Symbolik sei jedoch «verrückt und zynisch» gewesen, sagt der slowakische Politologe Grigorij Meseznikov: «Was Fico da zeigte, war die Logik der Mafia: Alles ist käuflich.» Meseznikov prophezeit ein politisches Erdbeben: Die Regierungskoalition könnte nach dem Mord zerbrechen. Am Donnerstag traten Ficos umstrittene Beraterin Troskova und Sicherheitschef Jasan für die Dauer der Ermittlungen zurück. Der für Kultur und Presse zuständige Minister Marek Madaric legte sein Amt zur Gänze nieder. Die Opposition fordert vor allem den Rücktritt von Innenminister Robert Kalinak. Er stand mehrmals unter Korruptionsverdacht.
Die These vom Rachemord der 'Ndrangheta wird nicht von allen geteilt. Einer seriösen Überprüfung halte die Theorie nicht stand, sagte der slowakische Journalist Radovan Branik dem tschechischen Newsportal «Aktualne». Branik nennt keine Details, deutet aber massive Korruption im slowakischen Justizapparat an: Kuciak habe einen «Staat im Staat» entdeckt. OCCRP-Gründer Drew Sullivan will andere Hintergründe zumindest nicht ausschliessen: Jan Kuciak könnte «einfach nicht gesehen haben, in welcher Gefahr er sich befand».
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