Wer kann, flieht vor der Angst
Bevor Macron die Ausgangssperre verhängte, haben die Reichen Paris verlassen. Wer sich das nicht leisten kann, steht nun Schlange vor dem Supermarkt.

Die einen verabreden sich mit Freunden zum Picknick im Park. Die anderen packen hastig ihre Koffer und suchen nach einem Ort, an dem sie so tun können, als gäbe es den Rest der Welt nicht. Sie fliehen nicht vor dem Krieg, sie fliehen vor der Angst. «Vermeiden Sie es, in Panik zu geraten», rät Emmanuel Macron den Franzosen. Nur um zwei Sätze später zu ergänzen: «Wir befinden uns im Krieg.» Auf der einen Seite will er diejenigen besänftigen, die sich vor dem Einschlafen jeden Abend den eigenen Tod ausmalen. Auf der anderen Seite will er jene aufrütteln, die nur deshalb in Sorge geraten, weil ihre Lieblingsbar auf unbestimmte Zeit dichtmacht.
Die Gerüchte kursierten schon am Wochenende. «Das Militär macht die Stadt dicht», hiess es beim Bäcker. «Ihr habt noch 48 Stunden Zeit, euch zu entscheiden, wo ihr den Hausarrest aussitzen wollt», wurde über Whatsapp weitergeleitet. In seiner Rede vermeidet Macron dann das Wort, das alle erwarten: Confinement – Ausgangssperre. Macron setzt im Katastrophenmodus auf Pathos und grosse Worte. Er hofft auf seine Kraft, die Krise irgendwie zur Chance werden zu lassen. «Am Tag danach, wenn wir gesiegt haben werden, wird es keine Rückkehr zum Vorher geben. Wir werden moralisch gestärkt sein, wir werden gelernt haben», sagt der Präsident. Etwas so Simples wie «Ausgangssperre» sagt er nicht.
Wohnungen zum Ersticken
In Frankreich gelten immer dieselben Regeln für alle Regionen – ohne dass sie für alle dasselbe bedeuten würden. «Es geht darum, die Kontakte ausserhalb des Hauses maximal zu limitieren», lautet die präsidiale Handlungsanweisung. Dieser Satz klingt in den wenig besiedelten Regionen des Zentralmassivs anders als in Paris. 21'000 Einwohner drängen sich hier auf einem Quadratkilometer. Wo der Platz fehlt, werden die Wohnungen kleiner, viel kleiner. Nicht vor die Tür gehen, klingt hier nicht nach Pause und Verlangsamung, es klingt nach Ersticken.
Nur raus aus der Stadt
Die Bahngesellschaft SNCF bestätigt, dass die Nachfrage nach Zugtickets in den Stunden vor dem neuen Reiseverbot signifikant anstieg. Die Richtung war: raus aus der Hauptstadt. Bei den Autovermietungen rasten die Preise in astronomische Höhen, Flüge waren ausgebucht. «Le Monde» berichtet, dass es in den Ferienorten schon vor der Saison voller wird. Wer kann, bezieht sein Zweitdomizil. Und in Paris können das erstaunlich viele. Es sind vor allem die besseren Viertel, in denen nun die Wohnungen leer stehen. Aus den verarmten Vororten, aus Seine-Saint-Denis, sendet das Fernsehen am Dienstagmorgen Bilder von Menschen, die sich zu Hunderten vor den Supermärkten drängen. Das Virus trifft alle gleich, seine sozialen Folgen nicht.
In Frankreich sprechen Präsident Macron und seine Minister nicht nur vom Krieg, um die nationale Einheit zu beschwören.
Doch neben denen, die sich aus dem Staub gemacht haben, und neben denen, die brav auf dem Sofa sitzen, gibt es noch eine dritte Gruppe von Menschen: Sie spazierten am Sonntag an der Seine entlang, sie machten mit ihren Kindern einen Ausflug in den Jardin du Luxembourg, sie hockten dicht an dicht auf Picknickdecken und entkorkten den Champagner. Diese Allzeit-Lässigen verteidigen den Ruf der Franzosen in der Welt. Sie wurden von allen bewundert, als kurz nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 vor den Bars schon wieder geraucht und diskutiert wurde. Lebensfreude aus Trotz und Willen.
Nur ist ein Virus kein Terroranschlag. Es ist nichts, was Wahnsinnige mit Waffen und Munition über einen bringen. Es ist etwas, das man in sich selbst trägt. In Frankreich sprechen Präsident Macron und seine Minister nicht nur vom Krieg, um die nationale Einheit zu beschwören. «Krieg» ist schlicht das eindrücklichste Wort für: Nun habt endlich mal Angst!
Und während Macron den Krieg ausruft, bricht eine seiner treuen «Soldatinnen» zusammen. Soldaten, Marschierer, so nennen sie in Frankreich diejenigen, die ihrem Präsidenten stets die Treue halten. Es ist eine martialische Sprache, die sich nicht erst mit dem Coronavirus verbreitet hat. Eine der wichtigsten Marschiererinnen Macrons war Agnès Buzyn, früher Ärztin, dann Gesundheitsministerin, schliesslich Macrons Kandidatin fürs Pariser Bürgermeisteramt.
Furcht vor jedem Meeting
Mitte Februar verliess Buzyn den Job der Corona-Krisenmanagerin und kämpfte ums Pariser Rathaus. Macron wollte es so. Dass sie bei der ersten Runde der Kommunalwahlen am Sonntag nur 17 Prozent holte, ist inzwischen fast egal. Wichtiger ist ihr Eingeständnis. «Als ich das Ministerium verliess, habe ich geweint, weil ich wusste, was uns für ein Tsunami bevorsteht», sagt Buzyn. Von Beginn ihrer Kampagne an habe sie «nur an das Coronavirus gedacht».
Die zweite Runde der Kommunalwahl ist für Juni angesetzt. Buzyn tritt nicht mehr an. Über ihre Kandidatur sagt sie: «Wir hätten alles stoppen müssen. Die letzte Woche war ein Albtraum, ich hatte Angst vor jedem Meeting.» Bleibt man in Macrons Rhetorik, dann herrscht nicht nur Krieg, dann befindet sich die ganze Armee in Zersetzung.
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