«Ein Schlachthaus, in dem die Metzger wechseln»
Der Fotograf Farrah Schennib hat für den «Spiegel» ein Tagebuch verfasst. Er beschreibt darin den grausamen Alltag in der vom IS besetzten libyschen Stadt Darna.

Wie leben – oder überleben – die Menschen unter der Herrschaft des Islamischen Staates (IS)? Die Terrormiliz pumpt Propaganda aus allen Rohren der sozialen Medien. Die Jihadisten versuchen, Kämpfer zu rekrutieren und ganze Familien in ihr Territorium zu locken (wir berichteten). Vertreter nahezu aller Regierungen und unabhängige Experten radieren das Bild aus, das der IS von sich selbst zeichnet.
Der «Spiegel» wollte es genau wissen und lancierte ein aufwendiges, riskantes Projekt – ein Tagebuch mit 22 Einträgen vom Leben unter dem IS in der libyschen Stadt Darna. Geschrieben hat es ein 26-jähriger Fotograf, den der «Spiegel» Farrah Schennib nennt. Die Einträge datieren zwischen dem 8. März und dem 9. August 2015 – und sie reflektieren eine ambivalente Mischung aus Emotionen: Angst und Resignation sowie Lebenslust und Widerstandswillen, wie das deutsche Medium schreibt.
Seit Herbst 2014 ist Darna unter Kontrolle des IS.
Das sind, redigiert und zusammengefasst, die bewegendsten Eindrücke aus Farrah Schennibs Tagebuch. Passagen sind teils wörtlich vom «Spiegel»-Artikelübernommen:
- Während der Revolution 2011 habe die Welt wissen wollen, was in Libyen passiere. Heute interessiere sich niemand mehr dafür.
- «Darna ist ein Schlachthaus, in dem die Metzger alle paar Monate wechseln.»
- «Eine Menschenmasse hat sich vor dem Al-Harish-Spital versammelt. Ein toter Bub liegt auf einer Bahre. Er hat keinen Kopf. Er wurde abgetrennt.»
- «Die Hisba, die Moralpolizei des IS, fährt in ihren weissen Hyundai-Vans Streife.
- Die Aufpasser tragen lange Gewänder, wie in Afghanistan, und lange Bärte. Sie zwingen jetzt auch die Ladenbesitzer, ihre Geschäfte während der Gebetszeiten zu schliessen, fünfmal am Tag, wie in Saudiarabien.»
- «Wir hassten Ghadhafi. Er und seine Söhne herrschten brutal, und wir hatten Angst vor seiner prügelnden Polizei. Aber Islamisten gab es damals nicht.»
- «Wir alle haben die Bilder gesehen, wie sie [die IS-Milizen] in Tripolis die Christen aus Ägypten an den Strand geführt und einen nach dem anderen geköpft haben, bis sich der Sand und das Meer mit ihrem Blut rot färbten.»
- «Ich glaube, sie sind so gefühllos, weil sie uns und unser Land nicht kennen. Unter ihnen sind Tunesier, Jemeniten, Tschetschenen, Pakistaner.»
- «Als der IS kam, mussten Journalisten ebenfalls ‹Abbitte› leisten für ihre ‹Verfehlungen› in der Vergangenheit. Ich sagte zu dem Mann im IS-Medienzentrum, dass die Zeiten verwirrend gewesen seien nach der Revolution und wir nicht gleich den richtigen Pfad gefunden hätten, dass wir jetzt aber glücklich seien, dass der Islamische Staat uns befreit habe.»
- «Darna ist abgeriegelt. Ich esse nur noch einmal am Tag. Ich habe Angst, dass es bald überhaupt nichts mehr zu essen gibt. Seit Tagen gehe ich nicht mehr aus der Wohnung. Seit 35 Stunden haben wir keinen Strom. Kein Internet. Keine Informationen.» (Eintrag vom 14. April)
- Beim Besuch seines Grossvaters sagt dieser: «Libyen ist reich. Das ist ein Segen, aber auch ein Fluch. Die Menschen im Westen wollen an das Öl, und auch die religiösen Fanatiker. Deshalb haben wir Krieg. Deshalb kommen auch all die ausländischen Kämpfer aus Afrika und Asien.»
- «Die IS-Milizen fahren mit Pick-ups und Lautsprechern durch die Strassen. Alle sollen sich versammeln und die öffentliche Hinrichtung eines Postangestellten ansehen. Der Mann habe für die libysche Armee gearbeitet, er sei ein Verräter. Wer nicht zur Hinrichtung erscheint, steht sofort unter Verdacht, gegen [den IS] zu sein. Wir gehen hin.»
- «Der IS ist nicht mehr in Darna. Der SRMD (Shura-Rat der Mujahedin von Darna; ein Ableger von al-Qaida) hat sie vertrieben. Der IS wird versuchen, zurückzukommen. Aber jetzt sitzen die Islamisten erst mal in den Bergen. Am Strassenrand stehen die bewaffneten Kämpfer des SRMD. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich jemals darüber freuen würde, dass meine Stadt jetzt von Milizen der al-Qaida regiert wird.» (Eintrag vom 14. Juni)
- «Das hätte ich gern mit eigenen Augen gesehen: Der Anführer des IS wurde geschnappt, sie haben ihn nackt durch die Strassen von Darna geführt. Später haben sie ihn gehängt. Ich habe Tränen gelacht, als ich es hörte. Beschämend, was aus uns geworden ist. Aber der IS, das sind keine Menschen.»
- «Der IS ist wieder da. Der IS ist wie ein Löwe im Käfig. Wer weiss schon, was als Nächstes geschieht?» (Eintrag vom 9. August)
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