Historisches Urteil gegen Mladic bringt keine Versöhnung
Das UNO-Tribunal beendet die Arbeit. Auf dem Balkan werden die Kriegsverbrechen bis heute verdrängt.

Auch an diesem historischen Tag, als die Augen der Weltöffentlichkeit noch einmal auf ihn gerichtet waren, wirkte Ratko Mladic gleichgültig, unbeteiligt, mürrisch. Er kehrte dem Richter Alphons Orie den Rücken zu, als dieser die lange Liste der Kriegsgräuel aufzählte, die von den bosnisch-serbischen Truppen begangen wurden. Ihr ehemaliger Chef tat so, als trainiere er seine Handmuskeln, während in diesem Gerichtssaal in Den Haag noch einmal das bosnische Totenbuch aufgeschlagen wurde. Irgendwann verlangte Mladic eine Pause, seine Anwälte erklärten, dem Angeklagten gehe es gesundheitlich nicht gut. Die Ärzte kamen zu einem anderen Schluss, und der Ex-General kehrte widerwillig vor das Richtergremium zurück. Er pöbelte, gestikulierte wild um sich und störte die Urteilsverkündung. Den Richtern blieb nichts anderes übrig, als Mladic aus dem Saal zu entfernen. So endete die letzte Schlacht des Schlächters vom Balkan.
Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Mladic sich mehrerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat – erwähnt wurden unter anderem der Völkermord an über 8000 bosniakischen (muslimischen) Männern und Knaben in Srebrenica, die Belagerung der Hauptstadt Sarajevo, die Folterlager in vielen Ortschaften, die Vergewaltigung von Frauen und die Geiselnahme von UNO-Blauhelmen. «Das Gericht verurteilt den Angeklagten daher zu einer lebenslangen Haftstrafe», sagte Orie. Laut dem niederländischen Juristen gehören die Verbrechen zu den abscheulichsten, die die Menschheit je gesehen hat.
Vulgäre Schimpftiraden
Orie und seine Kollegen, der Südafrikaner Bakone Justice Moloto und der Deutsche Christian Flügge, schlossen sich in zehn Punkten der Anklage an. In einem Punkt, der sich auf Völkermord in weiteren sechs bosnischen Gemeinden bezog, wurde Mladic freigesprochen. Das Mammutverfahren gegen den Ex-General, der 16 Jahre auf der Flucht war, dauerte über 500 Prozesstage, fast 400 Zeugen traten vor dem Tribunal auf, am Schluss lagen dem Richtergremium nahezu 10'000 Beweisstücke vor.
Wer diesen Gerichtsprozess auch nur sporadisch verfolgt hat, war von Mladics Verhalten bei der Urteilsverkündung nicht überrascht. Die einzige Waffe, die er vor dem Kriegsverbrechertribunal noch hatte, waren seine bösen Sprüche und seine vulgären Schimpftiraden. «Ich ficke deine türkische Mutter», schleuderte er einmal einem Zeugen entgegen. Für serbische Nationalisten vom Schlage Mladics sind die bosnischen Muslime «vertürkte» Konvertiten oder «genetisch deformiertes Material». In Den Haag konnte sich Mladic als Märtyrer der angeblich ewigen serbischen Leidensgeschichte aufplustern. Und er hoffte immer, dass seine Landsleute ihm applaudieren werden. Eine Minderheit der Serben feiert ihn tatsächlich immer noch als Helden, die grosse Mehrheit aber ignoriert das blutige Kapitel, was die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fast unmöglich macht. Der EU-Politiker David McAllister forderte nach dem Mladic-Urteil neue politische Initiativen, um die Gräben zwischen den Staaten des ehemaligen Jugoslawien zuzuschütten. Nun sei eine Politik der regionalen Zusammenarbeit und Versöhnung gefragt.
Für Nervosität sorgt ein Fussballspiel, das diesen Donnerstag in Belgrad stattfindet. Dort empfängt der FC Partizan die Berner Young Boys. Ein Funktionär des serbischen Clubs appellierte eindringlich an die Fans, die Gelegenheit nicht zu nutzen, um Mladic als Helden zu feiern.
In einer ersten Reaktion sagte Serbiens Staatschef Aleksandar Vucic, man habe mit einem solchen Ausgang des Verfahrens gerechnet. Er beklagte sich, dass die serbischen Opfer in allen Jugoslawienkriegen vom Ausland nicht ähnlich behandelt würden wie die Opfer anderer Nationen. Vucic wollte vor allem über die Zukunft sprechen, die Urteilsverkündung habe er nicht verfolgt. Dass der Belgrader Autokrat nur in die Zukunft blicken will, hat damit zu tun, dass Vucic bis vor wenigen Jahren ein glühender Anhänger Ratko Mladics und anderer Kriegsverbrecher war. Noch 2007 wollte er den Belgrader Zoran-Djindjic-Boulevard in Ratko-Mladic-Boulevard umbenennen. Der prowestliche Regierungschef Zoran Djindic wurde von der halbstaatlichen Mafia erschossen.
Volkslieder für Mladic
Der Präsident der bosnisch-serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, bezeichnete Mladic am Mittwoch als Helden und Patrioten, der in serbischen Volksliedern Einzug gehalten habe. Der mutmasslich korrupte Politiker droht seit Jahren mit der Zerstückelung Bosniens. Kurz nach dem Krieg hatte er Mladic noch als Teufel bezeichnet. Die liberale und linke Opposition in Serbien begrüsste das Urteil. Menschenrechtler forderten die Regierung auf, endlich jene Staatsdiener zu verurteilen, die Mladic jahrelang versteckt haben. Neben der Armee und dem Geheimdienst wird auch die russische Spionageagentur FSB als Teil des Netzwerks von Unterstützern des bosnisch-serbischen Generals erwähnt.
Ratko Mladic wird den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen. Das sei eine grosse Genugtuung für die Opfer, sagte Fikret Grabovica, der die Eltern vertritt, deren Kinder während der Belagerung Sarajevos ermordet oder verletzt wurden. Dutzende Überlebende des Massakers von Srebrenica waren nach Den Haag gereist, um das Urteil aus der Nähe zu verfolgen. «Ich bin überglücklich. Seit vielen Jahren haben wir für die Gerechtigkeit und die Wahrheit gekämpft. Dankbar sind wir allen, die uns unterstützt haben», erklärte Nedzba Salihovic, die beim Völkermord in Srebrenica ihren Sohn, ihren Ehemann und den Bruder verloren hat.
Mladics Sohn kündigte an, sein Vater werde in Berufung gehen. «Heute wurde Gerechtigkeit durch Kriegspropaganda ersetzt», fügte er hinzu. Angesichts der erdrückenden Beweislast wird aber selbst die zweite Instanz kaum etwas Massgebliches ändern können. Vor Ratko Mladic wurden bereits drei hochrangige Offiziere der bosnisch-serbischen Truppen ebenfalls zu lebenslanger Haft wegen Völkermordes verurteilt.
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