Badezimmer putzen mit Karl Ove
Mit dem sechsten Band «Kämpfen» hat der Norweger Karl Ove Knausgård sein autobiografisches Mammutprojekt abgeschlossen.

Karl Ove Knausgård kämpft. Er kämpft um die Wahrhaftigkeit, die er zum Mittelpunkt seines Werks gemacht hat. Wahrhaftigkeit ist nicht identisch mit Wahrheit; sie ist nicht Resultat, sondern ein Vorsatz, der sich als potenziell unendliche Bewegung verwirklicht. Sechs Bände und Tausende Seiten hat Knausgård nunmehr dafür aufgewandt; und die zahlreiche Leserschaft seiner Autobiografie hat es akzeptiert, dass es so und nicht anders sein muss.
Die Literatur ist voll von autobiografischen Schriften. Aber selten fällt die Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit so gering aus wie hier – es dauert, grob gesprochen, so lange zu lesen, wie Karl Ove das Bad putzt, wie Karl Ove braucht, um das Bad zu putzen. Abkürzung verfälscht; denn sie müsste die wesentliche Qualität des Lebens verfehlen, nämlich dass es sich in Zeit vollzieht. Das gilt auch und gerade in seinen Wiederholungen.
Würde Knausgård exemplarisch nur in einem einzelnen Fall berichten, wie es aussieht, wenn seine drei kleinen Kinder sich mit Eis vollkleckern, und hinzufügen: So geht das immer – dann wäre gerade das wesentliche Merkmal des elterlichen Daseins nicht getroffen, nämlich die nervtötende Dauer.
Der Dauer und der Wiederholung standzuhalten, darin besteht Knausgårds Unternehmen. Es zielt auf nichts Geringeres ab, als den Begriff des Banalen zu vernichten: Denn wären die ewig gleichförmigen Akte menschlicher Reproduktion wirklich, wie es heisst, banal, dann hätte das Leben, das überwiegend aus solchen Dingen besteht, keinen Sinn. Der Sinn des Lebens aber darf keinesfalls preisgegeben werden.
Durchbruch als Schriftsteller
Nun also ist, nach «Sterben», «Lieben», «Spielen», «Leben» und «Träumen», der sechste und letzte Band auf Deutsch erschienen: «Kämpfen». Im Zeitraum, der hier dargestellt wird, vollzieht sich Knausgårds Durchbruch als Schriftsteller. Er hat Scherereien mit Leuten, die ihr oft unschmeichelhaftes Porträt mit Klarnamen lesen müssen, und allen möglichen Ärger in der Familie. Wenig Inhalt für 1300 Seiten, könnte man denken. Doch Knausgård beherrscht die Kunst, von allen Dingen so zu sprechen, dass es nicht langweilig wird. Die erwähnte Badputzszene beginnt folgendermassen:
«Ich nahm John auf den Arm und trug ihn ins Badezimmer. Ich stellte ihn auf den Boden, griff nach dem Scheuerpulver, das auf dem Spiegel stand, und schüttete weisses Ajax-Pulver auf den Boden der Wanne, nahm den Schwamm, der unter dem Waschbecken steckte, und fing an, die weisse Emaille zu scheuern. Als ich das Wasser laufen liess, wurde das Pulver nicht nur flüssig, sondern verfärbte sich auch gelb. Ich mochte Gelb. Gelb auf Weiss, Gelb auf Grün, Gelb auf Blau. Ich mochte Zitronen, sowohl ihre Form wie ihre Farbe, und ich mochte die grossen Rapsfelder, die sich mit ihrem intensiven Gelb im Frühjahr und Sommer in Schonen ausbreiteten, unter dem hohen, blauen Himmel, zwischen den grünen Feldern. Und ich mochte das weisse Ajax-Pulver, das gelb wurde, wenn es sich mit Wasser vermischte.»
Wenn Knausgård sagt, Hitler sei der König des deutschen Gefühls gewesen, dann schwingt darin keine Ironie mit.
Das ist natürlich nur der Auftakt, als nächstes kommen die Haare im Abfluss dran. Es ist ein eigenes Gefühl, zu erleben, wie das weisse Pulver der Marke Ajax benässt und gelb wird. Speziell dieses letzte Detail geht Knausgård mit einer Furchtlosigkeit an, die sich erst auf den zweiten Blick offenbart: Denn es heisst indirekt, die Macht der Reklame einzugestehen, die uns etwas davon vorfabelt, dass sich hier die Kraft der Zitrone oder der Zauber eines Feldes im Frühling entfalte. Wie kann Reklame funktionieren, wo doch jeder weiss, dass sie uns bloss etwas vormacht?
Reklame findet überall statt, und jeder tut, als wäre sie unwichtig, als hätte sie keinerlei Einfluss auf sein Fühlen und Handeln. Aber das stimmt nicht. Damit ist der Übergang angebahnt vom Scheuerpulver zur Propaganda der Nazis, die angeblich auch niemand ernst genommen hat; von der Werbung zur Gewalt.
Die norwegische und die schwedische Gesellschaft, zwischen denen Knausgård pendelt (er lebt heute in Schweden), sind offenbar noch pharisäischer, als es Gesellschaften im allgemeinen zu sein pflegen. Der Pharisäer scheidet scharf zwischen sich und den anderen, zwischen Gut und Böse – eine Scheidung, durch die sich vorab das Böse ins Gute einschreibt.
Geteilte Grössenfantasien
Diejenige historische Person, auf deren unbedingte Ausgrenzung sich alle geeinigt haben, ist Adolf Hitler. Knausgård stellt darum gerade ihn ins Zentrum, ja er hat sein autobiografisches Werk genauso benannt wie der andere: «Min Kamp», «Mein Kampf», wohl wissend, wie angreifbar er sich damit macht. Über Hunderte von Seiten setzt er sich mit diesem Buch und mit den Memoiren von Hitlers Jugendfreund Kubizek auseinander. Sowohl Hitler als auch Knausgård hatten einen gewalttätigen, früh aus dem Familienleben ausscheidenden Vater und liebten ihre Mutter desto mehr, beide waren in ihren frühen Jahren als linkische Aussenseiter Demütigungen ausgesetzt und kompensierten durch Grössenfantasien.
Knausgård lenkt das Augenmerk vielmehr darauf, wie gewöhnlich all diese Erfahrungen und Empfindungen waren, wie viel schlechthin Zeittypisches sie enthalten; wie wenig man vom verbummelten 25-jährigen Hitler auf den späteren Führer hätte schliessen können.
Knausgård wendet sich entschieden gegen den Biografen Ian Kershaw, der jede noch so belanglose Episode aus dieser Frühzeit ins dämonische Licht der Prophezeiung taucht. Dem hält Knausgård entgegen: «Erst seine Unschuld verleiht seiner Schuld Gewicht.»
Fern von Humor
Niemand soll glauben, dass er, kämen die richtigen Umstände zusammen, nicht auch zum Diktator oder mindestens zum treuen Gefolgsmann werden könnte. Wenn Knausgård sagt, Hitler sei der König des deutschen Gefühls gewesen, dann schwingt darin nicht der leiseste Hauch von Ironie mit; Ironie wie auch Humor sind diesem Autor generell fremd.
Breiten Raum, ungefähr die Hälfte, nehmen in diesem letzten Band Lektüren ein, ausser «Mein Kampf» auch Ernst Jünger, Hermann Broch, Peter Handke, der Prophet Hesekiel, Witold Gombrowicz, Leonardo da Vinci und andere. Über viele Seiten hinweg beschäftigt er sich mit Paul Celans Gedicht «Engführung»; in diesem Lyriker entdeckt er den gleichen Willen zur Wahrhaftigkeit, den auch er selbst besitzt, wenngleich Celan zum völlig entgegengesetzten Mittel des Schweigens griff. Karl Ove Knausgårds uferlose Rede über Celans Schweigen mag man paradox finden, vielleicht sogar komisch; etwas Ergreifendes hat sie dennoch.
Knausgård, der von Haus aus kaum Selbstwertgefühl besass, konstituiert sein Ich völlig über das Schreiben. Doch erstaunlicherweise ist dieser Autor, der nur einen einzigen Gegenstand kennt, sich selbst, dabei völlig uneitel geblieben. Er besteht unübersehbar auf sich, aber nicht darauf, dass er etwas Besseres oder gar ein Guter wäre. Es kommt ihm darauf an, dass Mensch zu sein zwar etwas sehr Allgemeines bedeutet, jedoch immer nur im Einzelfall realisiert und gezeigt werden kann. Und da hat er leider nur einen einzigen, seinen eigenen, zur Verfügung.
Zwei Sätze zum Einprägen
Gross ist die Versuchung, am Schluss eines solch gigantischen Werks Ausschau nach einer Quintessenz zu halten. Dazu ist es natürlich viel zu facettenreich. Aber zwei Sätze verdienen es vielleicht dennoch, dass sie sich einprägen.
Erstens: «Wenn das Böse kommt, dann sicher nicht in Gestalt eines ‹Sie›, als etwas Fremdes, das wir leicht von uns weisen können, es wird in Gestalt eines ‹Wir› kommen.» Das ist es, was man aus «Mein Kampf», und zwar aus beiden Büchern dieses Namens, in sozialer Hinsicht lernen sollte.
Zweitens: «Die Welt ist ebenso geheimnisvoll wie ein Gedicht, aber das vergessen wir so gut wie immer.» Darum kann es zur Herausforderung werden, das Nuggihafte an einem Nuggi zu ergründen, wozu Knausgård fast eine ganze Seite braucht. Es gibt nichts Kleines auf der Welt.

Add Comment
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch