«Beerli, da muesch jetz dure»
Die Jodlerin Luise Beerli (75) wurde in einer Tiefgarage entdeckt. «In Höngg isch öppis los» ist nur ein Highlight ihrer Karriere.

Luise Beerli hat sich für uns in Tracht geworfen. Sie steht in der Mitte des hellen Wohnzimmers in ihrer Maisonettewohnung (geräumig, sauber, Blick auf die Alpen) und singt live das Lied «In Höngg isch öppis los», das im Hintergrund ab CD läuft. Das volkstümliche Stück ist im Artikel zu den Stadtkreishymnen vergessen gegangen – ein Kommentarschreiber hat uns auf diesen Umstand hingewiesen. Dabei passt Beerlis Lied sehr wohl zu einem Stadtkreis, der sich noch immer ein wenig wie ein Dorf anfühlt.
Wir haben Sie in unserer Zusammenstellung der Hymnen für jeden Stadtkreis übergangen. Dabei wäre «In Höngg isch öppis los» eine solche gewesen. Wir bitten Sie um Entschuldigung dafür.
Ach, das macht doch gar nichts.
Sie besingen im Lied ein idyllisches Dorf. So idyllisch ist Höngg aber längst nicht mehr.
Irgendwie schon, doch. Höngg ist noch immer das Dorf in der Stadt. Wir haben das Wümmetfäscht und sonst viele herzige Sachen. Aber Sie haben natürlich recht: Es hat sich sehr viel verändert. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, habe ich manchmal das Gefühl, ich sei 200 Jahre alt. Es ist so viel passiert. Die Gsteigstrasse, auf der jetzt der Bus fährt, das waren früher Bsetzisteine . . .
. . . und hier, wo wir uns befinden, war damals eine grosse Wiese.
Das Stück Land hat meinen Eltern gehört, etwas weiter unten stand der Bauernhof, auf dem ich aufgewachsen bin. Die ETH kaufte in den 60er-Jahren das Land etwas weiter oben, und meine Eltern bauten im Gegenzug diese sechs Blocks, deren 56 Wohnungen ich heute verwalte und betreue, inklusive der Gartenarbeit.
Ist traditionelle Musik für Sie auch eine Sehnsucht nach der alten Zeit?
Nein, gar nicht. Mir hat einfach das Volkstümliche immer sehr gefallen.
Wie sind Sie als Stadtkind zum Jodeln gekommen?
Einmal jodelte in der Klasse ein Mädchen, das hat mir imponiert. Als ich das Jodeln zu Hause ausprobierte, merkte ich, dass ich wohl eine Naturbegabung habe. In Höngg gab es damals zwar eine Trachtengruppe, aber noch keine Jodler. Ich war die Einzige, 24 Jahre alt.
Und später haben Sie dann Karriere gemacht.
Lassen sie mich dazu etwas ausholen. Ich habe als junge Frau im Parkhaus Utoquai gearbeitet. Die Dauermieter dort haben mir oft den Schlüssel in die Hand gedrückt und gesagt: «Beerli, kannst du rasch parkieren?» Ich war dann allein im Untergeschoss, und weil die Akustik dort so schön war, habe ich gesungen. Einer der Dauermieter hörte irgendwann heimlich mit.
Sie wurden in einer Tiefgarage entdeckt?
Es geht noch weiter. Nach der Arbeit, so gegen 23 Uhr, bin ich jeweils ins Du Théâtre gegangen, das war ein Unterhaltungslokal beim Opernhaus, geführt von Harry Bachmann. Dort sind richtige Künstler aufgetreten. An einem Abend kündigte Bachmann eine Überraschung an, er habe eine Jodlerin engagiert.
Er war also der heimliche Mithörer.
Genau. Ich aber wusste nicht, dass ich gemeint war, und freute mich auf eine Jodlerin. Nur, dass sie Luise hiess, fand ich eine Frechheit. «Die heisst auch noch gleich wie ich», sagte ich zu meiner Freundin. Irgendwann merkte ich, dass Harry Bachmann mich meinte – und ging auf die Bühne.
Und das funktionierte auf Anhieb?
Der Musiker auf der Bühne fragte mich, welche Tonlage er anstimmen solle. Ich hatte keine Ahnung, sang ihm aber einen Teil vor. Ich sang drei Lieder. Es lief wunderbar, die Leute hatten richtig Freude. Nach dem Auftritt verliess ich das Lokal durch den Hinterausgang, denn ich wollte auf keinen Fall noch einmal auf die Bühne zurück.
Das klingt wie im Märchen.
Es geht noch weiter: Einen Monat später rief mich nachts um halb zwölf einer von Harry Bachmanns Kapelle an. Er lud mich ins Atlantis ein für einen Auftritt. Ich dachte, «der ist doch käppelet». Drei Wochen später rief er erneut an. Ich war nervös, sagte mir aber: «Beerli, da muesch jetzt dure.» Ich kleidete mich in meine Appenzeller Tracht – doch ich fand das Restaurant Atlantis nicht . . .
. . . weil es ein Hotel war.
Das habe ich dann auch bemerkt, eine Frau hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Der Akkordeonist empfing mich. Er wog bestimmt 120 Kilogramm, wie soll ich sagen, ein währschafter Mann. Und jetzt stellen Sie sich vor: Wir haben die Lieder in einem Telefonhäuschen geprobt. Dieser Mann musste sich also mit seinem Instrument da reinsetzen, und ich zwängte mich dazu. Von diesem Moment an war ich 15 Jahre lang Solo-Jodlerin der Kapelle Edi Bär. Ich bin ein Glückspilz, das kann man so sagen.
Man nannte Sie damals im Dorf auch Traktor-Beerli. Wie kam es dazu?
Ich war nie ein Mädchen, das mit Puppen gespielt hätte. Der Traktor war mein Ding. Schon als Neunjährige bin ich damit herumgefahren.
War das nicht verboten?
Damals war es das nicht. Mein Traktor war ein exklusives Gefährt. Hürlimann, 49er-Jahrgang, zwei Zylinder, aber: eine Fehlkonstruktion. Die Kupplung und die Bremse waren auf einem Pedal. Halb gedrückt kuppelte man, ganz gedrückt bremste der Traktor ab. Und wenn ich den Berg hinunterdonnerte, musste ich aufpassen, den Gang überhaupt reinzubringen. Das war eine Kunst.
Und Sie beherrschten diese.
Ich hatte den Traktor im Griff, ja. Doch eines Tages, als ich mit Anhänger nach Altstetten musste, um in der Kläranlage Gülle zu holen, fuhr ich ohne Gang die steile Strasse hinunter. Ich überholte das Tram locker auf der steilen Strecke. Auf der Winzerstrasse hat mich dann ein Polizist auf dem Töff angehalten.
Und dann gabs eine Busse?
Der Polizist fragte mich, ob ich überhaupt wisse, wie schnell ich gefahren sei. Ich antwortete, was er gemessen habe, könne nicht stimmen. Und ich zeigte ihm – natürlich hatte ich den Gang wieder eingelegt –, dass mein Gefährt nicht schneller sei als erlaubt. Der Polizist blieb skeptisch, doch ich sagte ihm, dass ich weitermüsse, weil die Kläranlage schliesse. Also liess er mich ziehen. Natürlich hatte ich Freude, dass ich davongekommen war. Und die Kläranlage hatte sogar noch geöffnet.
Die Geschichte klingt wie aus einer anderen Zeit.
Das war es auch. Die alten Höngger sterben ja alle langsam. Wir waren früher ein Völkchen für uns. Damals grüsste man sich noch auf der Strasse. Es ist nicht schlechter geworden, aber anders.
Das heisst?
Ich arbeite viel mit dem Übergewand im Garten zwischen den Blocks. Doch grüssen tun die jungen Leute heute nicht mehr. Früher haben die Spaziergänger mit mir gesprochen. Man sagte, der Garten sei schön oder irgendetwas. Die Studenten vom Hönggerberg aber grüssen nicht. Das ist doch nicht richtig. Wir dürfen doch nicht vergessen, dass es auch normale Büezer braucht. Man sollte die Handwerker wieder mehr schätzen. Das ist etwas verloren gegangen in den letzten Jahren.
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