Bei den Konjunkturforschern herrscht Unsicherheit
Seit der Finanzkrise liegen die Ökonomen mit ihren Prognosen weiter daneben als üblich. Das räumen sie selber ein – und nennen die Gründe.

Die Konjunkturprognostiker haben die Rezession nach der Finanzkrise markant unterschätzt. Zudem ging es seither steiler nach oben, als erwartet. Unternehmer und Finanzpolitiker können auch die Prognosen für 2011 nicht für bare Münze nehmen, wie Ökonomen einräumen.
Vor drei Jahren war die Wirtschaft noch berechenbarer. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) prognostizierte damals für 2008 ein Wachstum des Schweizer Bruttoinlandprodukts (BIP) von 1,9 Prozent. Wie sich herausstellte, gelang dem Seco damit eine Punktladung.
Viel zu optimistisch
Mit dem Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers geriet aber nicht nur die Finanzbranche aus den Fugen, auch die Folgen auf die so genannte Realwirtschaft konnte selbst von Experten nur grob eingeschätzt werden.
Für 2009 stellten sie für die Schweiz anfänglich BIP- Veränderungen von -0,8 bis 1,0 Prozent in Aussicht. Geworden sind es dann -1,9 Prozent. Wer also in den Ausbau investierte, wurde auf dem falschen Fuss erwischt.
Völlig neue Situation
SECO-Chefökonom Aymo Brunetti spricht von einer völlig aussergewöhnlichen Situation, «in der wir noch nie waren». Dabei basierten Konjunkturprognosen auf Erfahrungswerten und Wirtschaftstheorie.
Die letzte globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die zum Vergleich hätte herangezogen werden können, habe es aber in den 1930er-Jahren gegeben. «Die heutige Wirtschaftsstruktur ist kaum mehr vergleichbar und anders als damals wurde massiv Gegensteuer gegeben, geldpolitisch wie finanzpolitisch», wie Brunetti sagt.
Bei solch ungewöhnlichen Schocks wie der Finanzkrise lägen Konjunkturprognosen höchstens zufällig punktgenau richtig. «Die Grobeinschätzung über Rezession und Aufschwung stimmte hingegen.»
Spezialfall Personenfreizügigkeit
Auch UBS-Ökonom Daniel Kalt verweist auf Finanzmarktbewegungen und fiskal- sowie geldpolitische Massnahmen «in bisher unbekanntem Ausmass». Speziell für die Schweiz waren strukturelle Veränderungen, die von den traditionellen Prognosemodellen nicht genügend berücksichtigt worden seien: Wesentlich sei die Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU, die viele gut qualifizierte und damit kaufkraftstarke Einwanderer brachte.
Die UBS-Ökonomen zählen nicht zuletzt wegen der Gewichtung dieses Effekts seit einigen Jahren zu den optimistischeren Konjunkturauguren. «Viele Prognostiker waren oder sind sich zu wenig bewusst, dass dies die Binnenkonjunktur ganz massiv unterstützt hat respektive immer noch tut», sagt Kalt.
Jan-Egbert Sturm, Leiter der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich, räumt ein, «nach der Krise hätten wir einen stärkeren Aufschwung prognostizieren müssen». Neben den kaum genau vorhersehbaren Staatshilfen und Konjunkturprogrammen habe die asiatische Wirtschaft deutlich weniger unter der Rezession in den USA gelitten als aufgrund früherer Fälle erwartet. Davon profitierte auch die Schweiz.
Bandbreite statt Punktprognose
Sturm, Kalt und Brunetti betonen, eine Punktprognose für das Wirtschaftswachstum sei immer mit Vorsicht zu geniessen. Unternehmer und staatliche Verantwortungsträger müssten in ihren Budgets die Streubreite der Prognosen und die zugrundeliegenden Annahmen wie etwa die Wechselkurse berücksichtigen.
Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse hält aber fest, es brauche Prognosen verschiedener Institutionen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten publiziert würden. «Dennoch sind Prognosen immer das Kind der Aktualität und können bei ausserordentlichen Ereignissen wie dem Golf-Krieg oder dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers rasch zur Makulatur werden», sagt Economiesuisse-Ökonom Rudolf Minsch.
Sicherheitsmargen auch für 2011 einbauen
Bei der eigenen Planung sollten Unternehmen und die Politik daher Sicherheitsmargen einbauen. Dies gilt auch für das nächste Jahr, für das die Ökonomen ein BIP-Wachstum von 1,2 bis 2,3 Prozent erwarten. Die Unsicherheit habe zwar abgenommen, sei aber immer noch höher als vor der Krise.
Die Staatsverschuldungsproblematik im Euro-Raum und auch in den USA könne zu grossen Ausschlägen beim Wechselkurs und bei der Konjunktur der Weltmärkte führen, warnt Minsch. Auch in den Schwellenländern könnten sich weiter Blasen bilden und eventuell platzen.
UBS-Ökonom Daniel Kalt rät, mittels unterschiedlichen Szenarien zu planen, welche neben einem Basis-Szenario auch positivere oder negativere Entwicklungen abbilden. Punktprognosen seien eine «künstliche Genauigkeit», sagt Sturm, «aber die Verantwortungsträger in Wirtschaft und Politik wollen es so». Während seiner Tätigkeit beim Münchner Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo) sei zeitweise eine Bandbreite für das Wirtschaftswachstum von beispielsweise 1,5 bis 2 Prozent angegeben worden, was Medien dann auf 1,75 Prozent gemittet hätten.
SDA/oku
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