
Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein; so sagt es Jesus im Johannes-Evangelium. Man kann vielleicht nicht behaupten, mit seiner Erklärung an die Missbrauchsopfer der Kirche habe der emeritierte Papst Benedikt XVI. diesen ersten Stein geworfen; viel ist die Rede von Scham und Schuld. Aber lässt man die Rhetorik der Zerknirschung einmal beiseite, bleibt in der Sache doch die alte Abstreiterei.
Joseph Ratzinger hatte also zum Beispiel doch, anders als zunächst von seinen Mitarbeitern behauptet, einst an einer Ordinariatssitzung teilgenommen, in der es um eine Therapie für einen jungen Priester ging. Freilich will niemand erwähnt haben, worum es in der Therapie denn wohl gehen könne... Vielleicht hat der spätere Papst ja angenommen, der Priester habe Lampenfieber beim Predigen. Wer es glauben will.
Selbst wenn es Ratzinger zumindest aus Sicht seiner Anhänger gelungen sein sollte, den einen oder anderen Vorwurf gegen ihn abzuschwächen, bleibt seine Erklärung ein erschütterndes Dokument. Erschütternd nicht, weil er Partei für die Opfer sexualisierter Gewalt in der Kirche ergriffen hätte, erschütternd nicht, weil er wenigstens das Eingeständnis einer Seelennot liefern würde, womöglich mitschuldig geworden zu sein an Vertuschungen der schrecklichen Missbrauchsfälle.
Erschütternd ist die Erklärung nur in einer Hinsicht: Sie kommt aus einer anderen Welt, einem Paralleluniversum weniger des Glaubens als uralter Machtstrukturen und Deutungsmuster.
Dieser Apparat ist nicht mehr von dieser Welt
Natürlich hat Benedikt XVI. das Recht, Vorwürfen zu widersprechen – aber was hier vor allem deutlich wird, ist Fremdheit, eine tiefe, anscheinend unüberwindbare Fremdheit eines Kirchenoberen gegenüber der säkularen Welt, aber auch einer zunehmend verzweifelten Basis.
Er scheint nicht zu verstehen, worum es den meisten Kritikern eigentlich geht: die Führung der katholischen Kirche zur Einsicht zu bringen, ihre eigenen christlichen Wertmassstäbe nicht mit Füssen zu treten, nur um den Apparat der Herrschaft zu erhalten. Joseph Ratzingers Erklärung löst diese Krise nicht, sie ist nur ein weiteres Symptom dafür.
Dieser Apparat ist tatsächlich nicht mehr von dieser Welt. Er stammt aus einem Leben und einem Land vor unserer Zeit und wurde spätestens während des Investiturstreits mit den deutschen Kaisern des Hochmittelalters ausgeprägt und vorherrschend.
Seither wird, mit gelegentlichen Ausnahmen, die Kirche von Männern dominiert, die alle eben diesem Herrschaftsapparat entstammen, die durch den Zölibat auf Liebe, Familie, Kinder verzichten müssen und die sich als Hirten begreifen, die, unter Führung des Stellvertreters Gottes auf Erden, die Schafe hüten und in deren Namen handeln.
Ein solches Konzept jedoch verhindert Erneuerung von unten nach oben, schliesst die Hälfte der Menschen, die Frauen, von vornherein aus und ist in den modernen Gesellschaften des Westens genau deshalb im Niedergang begriffen.
Der Nachwuchs an Seelsorgern schwindet ebenso dramatisch wie die Zahl der Kirchenmitglieder selbst. Und man muss sich nichts vormachen: Dort, wo der Volksglauben noch lebendiger ist, wie in Lateinamerika, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis viele Menschen den Kampf um eine bessere Kirche aufgeben – sollte sie sich nicht an Haupt und Gliedern wandeln. Doch um dies zu hoffen, muss der Glaube schon unerschütterlich sein.
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Analyse zu Ratzingers Erklärung – Papst Benedikt liefert ein erschütterndes Dokument der Entfremdung
Im Brief von Joseph Ratzinger zum Missbrauchsskandal ist viel von Schuld und Scham die Rede. Das Papier ist nicht mehr als ein weiteres Symptom dieser Krise.