Berlin ist brutaler als Zürich Berlin ist brutaler als Zürich
In Zürich gibt es Jugendliche, die bis zu 60 Delikte innerhalb von zwei Wochen verüben. Trotzdem sei Zürich mit Berlin nicht vergleichbar, sagt Jugendanwalt Hansueli Gürber. In Zürich gibt es Jugendliche, die bis zu 60 Delikte innerhalb von zwei Wochen verüben. Trotzdem sei Zürich mit Berlin nicht vergleichbar, sagt Jugendanwalt Hansueli Gürber.
Von Stefan Häne Zürich – Kinder aus Beirut schmuggeln Drogen, Jugendliche aus dem arabischen Raum rauben und vergewaltigen, muslimische Familienclans erschaffen im Schatten der geltenden Rechtsordnung ein eigenes Justizsystem, sogenannte Streitschlichter herrschen in ihren Revieren mit eiserner Hand, junge Opfer nehmen ihre Peiniger vor Gericht in Schutz, aus Angst vor Vergeltung im Bekanntenkreis: Die Jugendrichterin Kirsten Heisig zeichnet in ihrem Buch «Das Ende der Geduld» ein düsteres Gesellschaftsbild von Berlin, speziell vom Viertel Neukölln. Die Probleme türmen sich laut Heisig haushoch. Doch sind sie es tatsächlich? Lässt die Situation in Berlin befürchten, dass diese Entwicklung auch in Zürich einsetzt? Oder läuft sie bereits in einer Stadt, in der gewalttätige Jugendliche ebenfalls Schlagzeilen generieren, sekundiert von Parteien, die aus fast jedem Vorfall politisches Kapital zu schlagen versuchen? Hansueli Gürber, leitender Jugendanwalt bei der Jugendanwaltschaft Stadt Zürich, setzt sich seit 25 Jahren mit dem Phänomen der Jugendkriminalität auseinander, zuerst in Horgen, jetzt in Zürich. Heisigs Schilderungen der Berliner Verhältnisse hält er für glaubwürdig, eine Polemik sieht er darin nicht. Er stellt aber klar: «Mit Berlin ist Zürich nicht vergleichbar.» Zur Bildung von Ghettos wie in der deutschen Hauptstadt kommt es laut Gürber in Zürich nicht: Die Quartierbevölkerung sei durchmischter, Clans hätten deshalb keine Möglichkeit, ganze Viertel unter Kontrolle zu bringen. Zudem sei die Arbeitslosigkeit, eine der treibenden Kräfte der Jugendkriminalität, unter den hiesigen Jugendlichen (10 Prozent) weniger ausgeprägt als in Deutschland (20 bis 30 Prozent). Die Lage, folgert Gürber, sei nicht so dramatisch. Weitere Unterschiede zu Berlin: Mehr Intensivtäter? In Berlin mit seinen rund 3,4 Millionen Einwohnern sind derzeit rund 850 jugendliche Intensivtäter registriert, ein Viertel davon in Neukölln; das sind Straftäter, die in einem Jahr zehn und mehr Gewalttaten begangen haben. Im Kanton Zürich mit knapp dreimal weniger Einwohnern sind es etwa 60, wie Gürber schätzt. Diese Zahl sei seit Jahren konstant. Gemäss hiesiger Definition gilt als Intensivtäter, wer innerhalb von sechs Monaten fünf Delikte begangen hat, davon eines mit Gewaltanwendung. Eine stetige Häufung von Gewaltdelikten und eine gesteigerte Brutalität kann Gürber nicht erkennen. Bereits vor zehn Jahren habe es schlimme Übergriffe gegeben. Damals schlugen die Jugendlichen beispielsweise mit Stahlkappenschuhen zu, was wüste Verletzungen nach sich zog, wie sich Gürber erinnert. Bei der Hälfte der Delikte handelt es sich um Übertretungen. Die Jugendlichen haben also zum Beispiel gekifft oder sind ohne Billett Tram gefahren. Bei weiteren 40 Prozent seien die Taten als einmalige Vorfälle zu betrachten, wie sie für die «Adoleszenz männlicher Jugendlicher normal sind», etwa Sachbeschädigung. «Zu Intensivtätern werden diese jungen Leute in aller Regel nicht», sagt der Jugendanwalt. Ein Ausländerproblem? Wie in Berlin werden auch in Zürich Jugendliche mit Migrationshintergrund überproportional häufig kriminell. Bei den Straftaten mit körperlicher Gewalt sind etwa 60 Prozent der Täter Ausländer, dies bei einem Ausländeranteil von rund 30 Prozent in der Stadt Zürich. Klar übervertreten sind dabei Täter vom Balkan. Gürber möchte dieses Faktum zwar nicht wegdiskutieren, aber auch nicht problematisieren. Er ortet kein Herkunfts-, sondern ein Schichtenproblem. Gerade beim Übergang von der Schule zum Beruf sei das soziale Gefüge entscheidend. «Ob Schweizer oder Ausländer: Eigene Ohnmachtsgefühle und Perspektivenlosigkeit erhöhen die Gefahr, in die Illegalität abzugleiten.» Verfahren zu lang? Jugendrichterin Heisig kritisiert in ihrem Buch, es dauere oft Monate oder Jahre, bis ein 14- oder 15-Jähriger nach einer Straftat trotz eindeutiger Beweislage vor dem Richter stehe. Sie hat deshalb das Neuköllner Modell initiiert: Es soll Delikte schnell ahnden und verhindern, dass jugendliche Straftäter zu den gefürchteten Intensivtätern werden. Gürber hält diesen Ansatz für heikel. In der Zürcher Jugendanwaltschaft gilt seit einigen Monaten die Weisung, dass bei Gewalttaten die Befragung der Jugendlichen innerhalb der ersten zwei Wochen nach Eingang der Akten erfolgen müsse. Wichtig ist laut Gürber diese «schnelle Reaktion» auf eine Tat, nicht primär ein zügiger Abschluss des Verfahrens. «Zuerst machen wir dem Jugendlichen klar, dass er eine Grenze überschritten und dies Folgen hat.» Das könne zum Beispiel sofortige Untersuchungshaft sein, später Sanktionen wie Freiheitsentzug, eine Busse oder persönliche Leistung. In einem zweiten Schritt gehe es darum, mögliche Wege aus der Kriminalität aufzuzeigen und entsprechende Hilfe anzubieten. Gürber spricht von einer «ausbalancierten Kombination», die das Jugendstrafrecht vorsehe. Der Jugendliche wisse, dass eine Untersuchung gegen ihn laufe. «Er muss also kooperieren.» Familienclans ausser Kontrolle? Jugendrichterin Heisig schildert, wie sie in ihren Verfahren gegen Straftäter aus dem muslimischen Kulturkreis wiederholt an eine Mauer des Schweigens gestossen sei. Parallele Justizsysteme? Kriminelle Familienclans? Solche Erfahrungen hat Gürber nicht gemacht. Es gebe in Zürich weder Familienclans, die sich zu Banden formiert hätten, noch würden Kinder aus Beirut nach Zürich eingeschleust. In der Jugendanwaltschaft arbeitet seit neuem ein Mitarbeiter des Jugenddienstes der Stadtpolizei. Zusammen mit Sozialarbeitern besucht er kriminelle Jugendliche bei deren Eltern. In der Regel ergäben sich fruchtbare Gespräche mit den Beteiligten. Wichtig sei insbesondere der Beginn der Unterhaltung: «Es muss gelingen, das Vertrauen der Eltern und des Jugendlichen zu gewinnen.» Auf dieser Basis lasse sich aufbauen. Nötig sind weitere Faktoren: viel Erfahrung und Selbstbewusstsein. Hoffnungslose Fälle? Heisig erzählt in ihrem Buch von Jugendlichen, die sich jeglicher Kontrolle entzogen haben und das Versagen von Eltern, Schule und Behörden offenbaren. Gürber kennt nur ganz wenige äusserst komplizierte Fälle. Von den 60 Intensivtätern seien es höchstens 10. Ein Jugendlicher, den Gürber betreut, hat in der Vergangenheit in zwei Wochen bis zu 60 Delikte begangen, schon mehrere Male war er hinter Gittern – ein scheinbar hoffnungsloser Fall. Doch dem zuständigen Sozialarbeiter und Gürber ist es gelungen, eine Beziehung zum jungen Mann aufzubauen. Eine Privatfirma, die auf solche Fälle spezialisiert ist, hat ihm eine neue Stelle verschafft. Der Jugendliche lebt laut Gürber seit einigen Monaten deliktfrei. Gewonnen sei damit zwar schon einiges, aber noch nicht alles: «Er wird immer wieder in Versuchung kommen. Es wäre blauäugig, zu glauben, dass er nun sicher nie wieder delinquiert.» Zu viel Sozialromantik? Heisig diagnostiziert sozialromantische Verblendung. Ein Grossteil jener, die sich um Intensivtäter kümmerten, würden Probleme kleinreden oder gar ausblenden. Auch Gürber schlägt keine alarmistischen Töne an. Im Gegenteil: «Es ist derzeit erstaunlich ruhig in der Stadt Zürich.» Er selber, ehemaliges SP-Mitglied, gilt in bürgerlichen Kreisen als Verharmloser. Gegen dieses Etikett wehrt er sich. «Wenn wir mehr Erfolg hätten, wenn wir die Jugendlichen einfach wegsperren würden, würden wir uns den grossen Begleitaufwand sparen.» Weshalb im ersten Jahr nach der grossen Wirtschaftskrise in Zürich die Lage ruhiger ist als auch schon – darüber rätselt Gürber. Doch zurücklehnen kann er sich nicht. Die Jugend verändere sich laufend. Die Jugendunruhen in den Achtzigerjahren beispielsweise habe auch niemand vorausgesehen, warnt Gürber. Und spricht von einer Momentaufnahme, die in einem halben Jahr bereits Makulatur sein kann. Hansueli Gürber Der 60-Jährige ist seit über 26 Jahren in der Jugendanwaltschaft tätig. Seit 2007 ist er Leiter der Zürcher Jugendanwaltschaft. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Reptilien. Bildlegende. Foto: Vorname Name, Agentur Jugendliche treten in einer Fussgängerunterführung in Zürich auf einen am Boden liegenden Jungen ein, während eine Gruppe von Mädchen zuschaut (gestellte Aufnahme). Foto: Martin Rütschi (Keystone) Vorname Name Text (max. 5-zeilig)
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch