Betrunken an der Probe? Fünf Franken Busse!
Vor 150 Jahren wurde nach mehreren Anläufen die Tonhalle-Gesellschaft gegründet – und damit das erste ständige Zürcher Orchester. Es war der Beginn des modernen Konzertbetriebs in der Stadt Zürich.

Am 8. Februar 1868 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» eine kleine Notiz zu einem Unglücksfall: «Vorgestern ging beim Sprengen der alten Stadtmauer in der Nähe des Hotel Baur, was behufs der Wasserleitung nöthig war, ein Sprengschuss vorzeitig los und riss einem italienischen Arbeiter den Arm weg.» Historisch ist diese Nachricht zweifellos weniger bedeutend als jene, die auf derselben Seite ankündigte, dass man nun einen weiteren Anlauf zur Gründung einer «Tonhalle-Aktiengesellschaft» machen wolle. Aber sie verrät doch einiges über das Umfeld, in dem diese Gründung stattfand.
Zürich war eine Stadt im Umbruch damals: städtebaulich ebenso wie kulturell. Die Stadtmauern und Türme, die damals noch standen, verschwanden allmählich, die Infrastruktur wurde ausgebaut. Bald würden die ersten Pferdetrams auf die Strassen kommen und die Ziegen vom Zähringerplatz vertrieben werden. Und die beiden Hälften der Stadt, die damals rund 20'000 Einwohner zählte, würden enger verbunden sein: Die Bahnhofbrücke und die Usteribrücke waren 1868 bereits gebaut, die Rathausbrücke und die Quaibrücke folgten Anfang der 1880er-Jahre.
Von der neuen Tonhalle, deren Säle derzeit auf den Stand des Baujahres 1895 zurückrestauriert werden, träumte man damals noch nicht einmal. Aber von einem sinnvoll nutzbaren Konzerthaus und einem ständigen Orchester: davon schon.
«Das isch mis Horn»
Bereits Richard Wagner hatte in seiner Zürcher Zeit (1849–1858) drei Vorstösse zur Gründung eines festen Orchesters lanciert – vergeblich. Es blieb bei temporären Ensembles, in denen neben Profis auch Amateure aus Zürcher Bürgerfamilien sassen, die sich von einem hergelaufenen Komponisten nichts sagen liessen. «Herr Wagner, das isch mis Horn, uf dem blas ich, wien ich will»: Selbst wenn dieser später von Friedrich Hegar überlieferte Satz nicht genau so gefallen sein sollte, widerspiegelt er doch das damalige Klima.
Aber es gab auch neben Wagner Leute, die mehr wollten. Karl Keller etwa, wegen seiner autokratischen Art «Zar» genannt, ursprünglich Sekundarlehrer in Meilen, später Professor für deutsche Sprache am Polytechnikum und Bariton im Stadtsängerverein: Er entwickelte zusammen mit gleichgesinnten Lehrern, Richtern und Rechtsanwälten die Vision eines ständigen Orchesters – und eines brauchbaren Konzertsaals.
Schon die Gründung eines Orchestervereins 1861 zielte in diese Richtung. Den entscheidenden Anstoss zur Realisierung der Pläne gab dann aber 1867 das Schweizerische Musikfest, das im umgebauten (und heute längst abgerissenen) Kornhaus am Bellevue stattfand. Der erst 26-jährige Friedrich Hegar, Kapellmeister des Orchestestervereins, war der Festdirigent, 101 Musiker und 603 Chorsänger machten mit – ein Riesenerfolg. Diesen Schwung wollte man ausnützen für die Gründung der Tonhalle-Gesellschaft, bald waren die ersten Aktien verkauft. Aber dann kam die Cholera dazwischen: 136 Todesfälle wurden gezählt; das reichte, um die Gründung zu verzögern. Der zweite Anlauf klappte dann: 1056 Aktien à 50 Franken wurden verkauft, 56 mehr als nötig. Am 27. Februar 1868 wurde die Tonhalle-Gesellschaft gegründet.
Die Stadt beteiligte sich damals noch nicht an den Kosten für den Betrieb; Subventionen wurden erst später eingeführt.
Das zugehörige Orchester umfasste in seiner Kernbesetzung zunächst rund 30 Musiker (Musikerinnen waren damals noch nicht gefragt); für grösser besetzte Werke holte man Zuzüger, in den ersten Jahren nach wie vor oft Amateure. Präsident war Karl Keller, zum Kapellmeister wurde Friedrich Hegar berufen, der das Orchester in den folgenden 38 Jahren professionalisieren sollte. Und im Verwaltungsrat sass unter anderen Otto Wesendonck, Zürcher Industrieller und Gatte jener Mathilde Wesendonck, die als (mutmassliche) Geliebte und Muse von Richard Wagner in die Musikgeschichte einging.
Aber so revolutionär und zukunftsweisend diese Gründung war: Bis sich der Zürcher Konzertbetrieb stabilisierte, dauerte es noch eine Weile. Neben Zürcher Musikern sassen zu Beginn viele Deutsche und Österreicher im Orchester, die gern bessere Angebote vor allem von höfischen Kapellen in ihrer Heimat annahmen. Von einem ständigen Orchester könne nicht gesprochen werden, hiess es deshalb im Jahresbericht 1869/70, «beständig war nur der Wechsel».
Akustik zum Verzweifeln
Auch musikalisch zogen längst nicht alle am gleichen Strick. Hegar berichtete von einem Geiger, der während einer Probe aufstand und im Namen des Orchesters erklärte, dass sie nicht weiterspielen würden. Das Argument: «Eine Symphonie von Mozart könne jeder von ihnen ohne Probe spielen, und jetzt werde schon über eine Stunde an etwas so Leichtem herumprobiert, das sei zu arg.» Hegar sah das anders und widersprach dem Geiger und der damals noch weit verbreiteten Ansicht, «dass es genüge, wenn im Orchester die Noten richtig gespielt würden und wenn die dynamischen Abstufungen wenigstens erkennbar wären.»
Auch sonst scheint es mit der Orchesterdisziplin nicht weit her gewesen zu sein: Noch 1879 wurde in den Musikerverträgen festgehalten, dass Betrunkenheit in der Probe mit fünf Franken und im Konzert mit dem doppelten Betrag gebüsst würde, dass Rauchen und lautes Reden in Proben wie Aufführungen verboten seien. (Dass das Publikum seine Gläser jeweils mit ins Konzert nahm, unter den Stühlen deponierte und dann halt gelegentlich umstiess, wurde dagegen als normal akzeptiert.)
Auch das Kornhaus, das bald einmal Tonhalle genannt wurde, war nicht ideal. Es konnte nicht geheizt werden, und auch die Akustik brachte Hegar zur Verzweiflung; man habe jede erdenkliche Massnahme ausprobiert, «um mehr Ton zu erzeugen, um dem Ton mehr Glanz zu geben», klagte er: «Alles umsonst! Es blieb eben Filz, Mehlsack.»
Unterhaltungskonzerte im Palmengarten
Gespielt wurde im Vergleich zu heute noch nicht allzu oft: Sechs Abonnementskonzerte im Winter, weitere sechs im Sommer, dazu gab es ein paar Quartettabende und Benefizkonzerte. Aber das Orchester war ja auch noch für die Opern zuständig, die damals im Aktientheater an den Unteren Zäunen aufgeführt wurden. Und dazu Unterhaltungskonzerte im Palmengarten vor dem Kornhaus, die nicht nur die eher mageren Löhne der Musiker, sondern auch das Budget der Tonhalle-Gesellschaft aufbesserten.
Das war nicht unwichtig, denn die Stadt beteiligte sich damals noch nicht an den Kosten für den Konzertbetrieb; die Subventionen wurden erst später eingeführt. Nur als das Aktientheater 1890 abbrannte und mit den Aufführungen auch die Einnahmen ausfielen, verzichtete die Stadt auf einen Teil der Miete der Tonhalle – die mit 9000 Franken pro Jahr im Übrigen sehr hoch war.
«Besseres Tingeltangel»
Dass man die Finanzen da auch mal mit Gästen und Veranstaltungen aufpolierte, die nicht über alle Zweifel erhaben waren, ist verständlich – und wurde heftig kritisiert. Die Tonhalle respektive der Palmengarten scheine zum «besseren Tingeltangel» zu werden, monierte etwa ein Rezensent der «Neuen Zürcher Zeitung» 1888: «Was man früher gewohnt war, nur in Singspiel- und Bierhallen zu hören, wird jetzt auch in der Tonhalle geboten, in der aufzutreten ehedem eine grosse Ehre und Vergünstigung war.» Es seien wohl «wichtige Geschäftsinteressen», die diesen Wandel bewirkt hätten; und man dürfe sich nicht wundern, «wenn dasjenige Zürcher Publikum, das bis jetzt die Tonhalle als einen theuren Schatz hütete, solchen Konzerten . . . mehr und mehr entfremdet wird.»
Aber da wurden schon längst Pläne für die neue Tonhalle gewälzt. Verschiedene Standorte wurden diskutiert, auch von einer kombinierten Institution mit einem Konzerthaus und einer Musikschule war die Rede. Der Ausbau der alten Tonhalle, den man zunächst angepeilt hatte, war dagegen bald vom Tisch. Und als 1895 unter der Leitung von Johannes Brahms der weitherum gerühmte Bau neben dem Hotel Baur au Lac eröffnet wurde, war bald einmal vergessen, was vorher war.
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