Abrechnung von BondarewWächst der Widerstand im Kreml?
Nach der spektakulären Abrechnung des russischen Diplomaten Boris Bondarew mit dem Kreml gibt es zumindest Anzeichen für Unzufriedenheit im Land mit Putins Kriegspolitik.

Boris Bondarew hat 20 Jahre lang ein äusserlich unauffälliges Arbeitsleben geführt, und die meisten Menschen in Russland wissen über ihn noch immer nicht mehr. In den staatlichen Medien war das spektakuläre Statement des russischen Diplomaten kein Thema. Der Kreml hat sich am Dienstag von dem Mann distanziert. «Man kann hier wahrscheinlich nur sagen, dass Herr Bondarew nicht mehr zu uns gehört – vielmehr, dass er gegen uns ist», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Und weiter: «Er hat die Handlungen der russischen Führung verurteilt – und die Handlungen der russischen Führung werden praktisch von der gesamten Bevölkerung unseres Landes unterstützt. Das bedeutet, dass sich dieser Herr gegen die allgemein vorherrschende Meinung unseres Landes ausgesprochen hat.»
Bondarews öffentlicher Brief war eine Abrechnung mit der russischen Führung, eine Erklärung gegen den Krieg in der Ukraine. Niemals habe er sich «so geschämt für mein Land wie am 24. Februar», schrieb Bondarew. Er nannte Russlands Angriffe nicht nur einen Krieg «gegen die Ukraine, sondern faktisch gegen die gesamte westliche Welt». Russland isoliere sich zunehmend. Im ausführlichen Interview mit dieser Redaktion sagte er weiter: «Ich bekam Hunderte Kommentare und Zuschriften über die sozialen Netzwerke. Bei den meisten handelte es sich um Komplimente. Jenen Menschen, die meine Gefühle und meine Position teilen, bin ich zutiefst dankbar. Natürlich gab es auch unfreundliche Kommentare. Es gab Beschimpfungen und Leute, die meinen Entscheid kritisch hinterfragten. Aber in meiner Situation kann man nicht hundertprozentigen Support erwarten, sonst wäre ich ja eine Art Diktator.»
Prominente Kriegsgegner
Kritik am Krieg, der in Russland als «militärische Spezialoperation» bezeichnet werden muss, haben schon viele Russinnen und Russen geäussert, oft, nachdem sie das Land verlassen haben. Unter ihnen waren Geschäftsleute wie der Bankunternehmer Oleg Tinkow und Künstlerinnen wie die Primaballerina des Bolschoi-Theaters, Olga Smirnowa. Oder die Journalistin Marina Owsjannikowa, die während einer Live-Übertragung im Staatsfernsehen mit einem Plakat gegen den Krieg und gegen Propaganda Aufsehen erregte.

«Kommersant» zitierte Aussenminister Sergei Lawrow mit den Worten, dass die Mitarbeiter seiner Behörde «ihre professionellen Verpflichtungen mit gutem Gewissen und vollumfänglich erfüllen. Verräter unter Diplomaten konnten nicht gefunden werden.» (Lesen Sie auch den Artikel über Lawrows Aussage in einem TV-Interview: «Hitler hatte auch jüdisches Blut».)
Die «New York Times», die mit Bondarew telefoniert hat, berichtete allerdings ebenfalls, dass der Diplomat gesagt habe, er sei nicht allein mit seiner Kritik. Wenngleich es wohl nur eine Minderheit unter den russischen Diplomaten sei, die gegen den Krieg ist, wie Bondarew der US-Zeitung zufolge vermutet.
Die Internetzeitung «Medusa» berichtete, dass es derzeit «fast keine Zufriedenen» gebe.
Präsident Wladimir Putin hat die russische Führung und die Bevölkerung auf den Kurs des Kreml eingeschworen, auf Unterstützung für die sogenannte Spezialoperation, den Krieg in der Ukraine. Doch auch unter der politischen Elite gibt es laut einem russischen Medienbericht Unzufriedenheit über die Lage.
Die Internetzeitung «Medusa» berichtete in einer längeren Analyse, dass es derzeit «fast keine Zufriedenen» gebe. «Medusa», die ihren Sitz im lettischen Exil in Riga hat, gehört zu den beliebtesten der kritischen russischen Medien. Das Nachrichtenportal hat nach eigenen Angaben mit mehreren Personen gesprochen, die dem Kreml und der Präsidentenadministration nahestehen, sowie mit mehreren Quellen aus dem engen Umkreis der russischen Regierung. Demnach gibt es nach mehreren Wendungen in Moskau gerade eine neue Welle des Pessimismus.
Noch Anfang März habe eine Mehrheit der Kreml- sowie der Regierungsmitarbeiter «einfach nicht gewusst, was zu tun ist – mit Schrecken dachten sie darüber nach, was die Sanktionen für ihre Karrieren bedeuten». Im April habe es dann einen «patriotischen Anstieg» gegeben, als viele in der Staatsmacht öffentlich zum Kampf «bis zum Ende» aufgerufen hätten.
«Friedenslager» und Falken
Jetzt herrscht gemäss «Medusa»-Analyse wieder Pessimismus vor. Man könne nicht mehr wie früher leben, «von einer positiven Entwicklung nicht zu reden». Irgendwie könne man leben, mithilfe Chinas und Indiens. Bei alldem sehe man aber im Kreml «kein realistisches Szenario, bei dem der Staat die Kampfhandlungen in der Ukraine beenden und zugleich seine Umfragewerte behalten kann», heisst es in dem Artikel.
Unzufriedenheit gibt es in zwei Lagern. Wirtschaftsvertreter sowie viele Regierungsmitarbeiter hätten nicht mit derart umfangreichen Sanktionen gerechnet, mit denen es «unmöglich ist, normal zu leben». Schon jetzt seien nach Ansicht des «Friedenslagers» die Probleme sichtbar, bis Mitte des Sommers würden sie von allen Seiten streuen: beim Transport, in der Medizin, «sogar in der Landwirtschaft». Putin selber aber, heisst es, wolle nichts davon wissen, dass wirtschaftliche Probleme mit Russlands Ukraine-Krieg zusammenhängen.
Den Falken andererseits gefalle wiederum das Tempo des Einsatzes nicht. Sie meinen den ungenannten Quellen zufolge, dass man «entschiedener und härter handeln» könne. Damit sei gemeint: eine breite Mobilisierung von russischen Reservisten und ein Krieg «bis zum Sieg – idealerweise bis zur Einnahme von Kiew». Zu einer solchen Mobilisierung, heisst es im Bericht, sei man im Kreml jedoch nicht bereit.
Fehler gefunden?Jetzt melden.