Boris Johnson will an die Macht
Der ehemalige Londoner Bürgermeister ist auf Bühnen allgegenwärtig. Da Premierministerin Theresa May immer mehr wankt, sieht der überzeugte Brexit-Befürworter seine Zeit gekommen.

Nicht einmal seine Berater und seine Presseleute ahnten, was Boris Johnson diese Woche sagen würde – bei einem «privaten» Auftritt vor Versicherungsmaklern in Manchester, aber belauert vom öffentlichen Sender, von der BBC.
Als er gefragt wurde, ob auch er sich um den Posten Theresa Mays bewerben wolle, wenn es so weit sei, sagte Johnson, das werde er «selbstverständlich» tun: «Ich glaube nicht, dass das für irgendjemanden ein besonderes Geheimnis ist.» Am selben Tag hatte Premierministerin May ihrer Fraktion das bittere Zugeständnis machen müssen, dass sie der Partei noch vor Mitte Juni einen Plan für ihren Rücktritt vorlegen wird. Erwartet wird nun, dass der Kampf um ihre Nachfolge nach Pfingsten allen Ernstes beginnt.
Das Schweigen gebrochen
Und zu den zwei Dutzend Kandidatinnen und Kandidaten aus der Partei, die gern im Herbst in No. 10 Downing Street einziehen würden, gehört natürlich auch Boris Johnson, der diesmal seine Zeit für gekommen hält. Johnsons kleine, spontane Ankündigung vor den Maklern überraschte so im Grunde nur seine eigenen Mitarbeiter, fand aber im ganzen Land Resonanz. Dies umso mehr, als der ewige Herausforderer Mays (und früher David Camerons) sich wochenlang Schweigen auferlegt hatte. Niemand hatte dieses Jahr viel von ihm gehört.
Was nicht heisst, dass nicht überall von ihm die Rede gewesen wäre. Denn eine so vertraute wie umstrittene Figur ist der ehemalige Aussenminister und Londoner Bürgermeister in seiner Heimat, dass er schon jetzt vielerorts ohne sein Zutun die Hauptrolle spielt. Auf Bühnen und Bildschirmen scheint er allgegenwärtig.
Jüngst hatte zum Beispiel in Londons Park Theatre, im Norden der britischen Hauptstadt, ein Stück mit dem Titel «Die letzte Versuchung des Boris Johnson» Premiere. Dargestellt wird Johnson, zu allabendlichem Beifall, von einem munter herumhopsenden Schauspieler, der sich die Haare gebleicht hat, um Boris ähnlich zu sehen.
Trump erklärte May schon, dass Johnson «ein Freund» und «ein grossartiger Premier» wäre.
Das kuriose Stück, das der von zeitgenössischer Politik faszinierte Dramatiker Jonathan Maitland verfasst hat, hat viel Beachtung gefunden. Im ersten Teil geht es um Johnsons zögernden und rein karriereorientierten Entschluss von 2016, sich für den Brexit und gegen den damaligen Premier Cameron einzusetzen. Der zweite Teil spielt im Jahr 2029. Ein mehrfach gescheiterter Boris Johnson erwägt in dieser Zukunftsvision, sich noch einmal ums höchste Regierungsamt zu bewerben. Als Partei- und Regierungschef soll Boris neue Grosstaten vollbringen – und Britannien zurück in die EU führen. Satte Ironie liefert Maitland hier. Das Publikum liebt es. Opportunismus und Machthunger treiben die Handlung voran. Viel belacht wird Boris bei diesen Aufführungen. Aber eben: Sein Name ist in aller Munde. London redet von ihm. Wer sonst im Vereinigten Königreich, ausser den Royals, ist schon über seinen Vornamen allein zu identifizieren? Wer im politischen Bereich hat solchen Unterhaltungswert?
Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass Boris zum Bühnenstoff geworden ist. «Boris: World King» hiess schon eine Komödie von 2015. Johnson soll seinenEltern als Kind einmal eröffnet haben, er werde sich «König der Welt» nennen, sobald er erwachsen sei.
Ein echtes Original
Auch das Fernsehen hat sich des schillernden Politikers angenommen, wie in den Doku-Dramen «Theresa vs Boris» oder «Brexit: The Uncivil War».
Die Künstlerin Helen Masacz, die Johnson im Jahr 2010 zur Erinnerung an seine Zeit als Bürgermeister Londons malte, forderte im letzten Herbst Freiwillige auf, ihr Boris-Bild nach Kräften mit Ölfarbe zu verschmieren. «Boris Johnson – Cover Up» nannte sie das neue Produkt, das zeitweise in der Royal-Opera-Arkaden-Galerie ausgestellt war.
Ob beim Happening verunstaltet oder karikiert auf der Bühne: Boris Johnson weiss, dass ihn die Nation kennt. Er besitzt die Fähigkeit, Rollen zu spielen und sich darzustellen. Er ist, wie man in England liebevoll sagt, «a real character». Auch wenn er gerade auf keiner Bühne steht. Just im Brexit-Chaos und in der aktuellen schweren Krise der Konservativen Partei sind Johnsons Aktien wieder spürbar gestiegen. Bei den Bookies, den britischen Buchmachern, rangiert er mit Quoten von 3:1 ganz vorneweg.
Den letzten Umfragen zufolge wäre Boris erste Wahl für ein Drittel aller Parteimitglieder. Dominic Raab, der frühere Brexit-Minister, hinkt als Zweitpopulärster mit 15 Prozent Zuspruch weit hinterher. Auch beim Gewinnen von Sponsoren und Sammeln von Geldern ist Johnson seinen Rivalen und Rivalinnen deutlich überlegen – während seine Partei, der die grossen Geldgeber davonlaufen, kaum noch die Miete für ihr Hauptquartier in London bezahlen kann.
Umfrageergebnisse ohne Teilnehmer
Natürlich weiss auch Boris Johnson, dass für ihn wieder alles schieflaufen könnte, wie vor drei Jahren. Auch damals, als es um die Nachfolge David Camerons ging, war er Favorit, stolperte aber kurz vor dem Ziel. Mittlerweile wollen ihn moderate Tories bei der für diesen Sommer erwarteten Vorsitzenden-Neuwahl durch taktische Absprachen um jeden Preis ausmanövrieren. Einige prominente konservative Abgeordnete wie der frühere Kronanwalt Dominic Grieve haben sogar geschworen, dass sie aus der Partei austreten würden, sollte Johnson die Führung übernehmen. Leuten wie Grieve ist nicht nur Johnsons harte Linie beim Brexit verhasst. Sie können sich auch nicht damit abfinden, wie unbekümmert der ehemalige Brüssel-Korrespondent des rechtsnationalen «Daily Telegraph» noch heute mit Fakten umspringt.
Vor kurzem musste der «Telegraph», für den Johnson als Kolumnist noch immer schreibt, eine Berichtigung ins Blatt rücken, weil Boris ohne jeden Beweis behauptet hatte, Meinungsumfragen zufolge würden die meisten Briten einen vertragslosen Austritt aus der EU jeder anderen Lösung vorziehen.
Solche Umfrageergebnisse existierten nicht. Und nächste Woche muss ein Londoner Gericht darüber entscheiden, ob Johnson vorgeladen werden soll, weil er bei der Referendums-kampagne von 2016 auf seinem notorischen «Battle Bus» Falschaussagen gemacht haben soll.
Je chaotischer die Lage im Regierungslager, desto mehr Sympathien fliegen Johnson zu.
Viele seiner Parteigänger glauben freilich, dass nur einer wie Johnson den Tories neue Beliebtheit verschaffen und einen ausgesprochenen Populisten wie Nigel Farage und dessen Brexit-Partei in Schach halten könnte. Je chaotischer die Lage im Regierungslager, desto mehr Sympathien fliegen Johnson zu.
Die mehrfache Verschiebung des EU-Austritts, Mays inzwischen gescheiterte Kompromisssuche mit Labour und die Aussicht auf eine triumphale Rückkehr Farages im Zuge der Europawahlen haben bei den Tories zu einer solchen Lähmung und Panik geführt, dass viele Konservative nach einem kecken und angriffslustigen Politiker wie Johnson verlangen.
Er hat beste Chancen
Solange die Brexit-Frage nicht gelöst sei, meinen Experten, habe Johnson die beste Chance. «Wir müssen eine neue Richtung einschlagen», hat Ex-Tory-Generalsekretär Grant Shapps jüngst erklärt. «Und dafür brauchen wir dringend eine frische Führung.» Mit «frisch» ist einer wie Boris Johnson gemeint. Denn der geschickte Mix, mit dem Johnson seine Wähler bedient, hat es in sich. Er folgt einem klug ausgetüftelten Plan. Was zum Beispiel Staatsausgaben betrifft, gibt er sich grossherzig, spielt er den «One-Nation-Tory», den Friedensstifter zwischen den sozialen Schichten im Lande. Gegen öffentlichen Wohnungsbau und mehr Investitionen ins staatliche Gesundheitswesen, wie sie auch die Labour Party fordert, hat er nichts.
In anderen Fragen, wie etwa beim Streit um Schleier und muslimische Gewänder, rührt er dagegen lieber Unfrieden und Ressentiment auf. Dass ihm Frauen in Burka «wie Briefkästen» vorkommen, hat ihm wütende Reaktionen, aber auch den Applaus vieler Parteigänger eingetragen. Zum Klimawandel hat er erklärt, um den würden sich schon die Kräfte des freien Markts mit neuen Lösungen kümmern. Auf einen, dem er sich in solchen Dingen wesensverwandt fühlt, darf er sich nun jedenfalls freuen. Beim Staatsbesuch des US-Präsidenten Donald Trump Anfang Juni in London wird ihm bestimmt eine Sonderbehandlung zuteilwerden.
Schon beim letzten Trump-Besuch, im Vorjahr, hatte der amerikanische Gast zu Theresa Mays Bestürzung erklärt, Johnson sei «ein Freund», der «einen grossartigen Premierminister abgeben» würde. Diesmal heisst es, Trump werde Johnson zum Abendessen in die US-Botschaft einladen, in der er sich für die Dauer seines Aufenthalts einquartieren will. Zu einem günstigeren Zeitpunkt hätte dieser Besuch für Johnson nicht kommen können – just wenn die Partei, im Juni, May endgültig abhalftern will und der Nachfolgekampf beginnt.
Für Johnson gibt es jedenfalls nur einen Kandidaten, der die Tories aus ihrem totalen Stimmungstief holen und Jeremy Corbyn, Nigel Farage und den leidigen Europäern gleichermassen die Stirn bieten kann. Nämlich ihn selbst. Boris Johnson. Den ja jeder kennt.
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