Bundesgericht senkt Hürde, um straffällige EU-Bürger auszuschaffen
Um einen Verbrecher mit EU-Pass des Landes zu verweisen, ist es nicht mehr nötig, dass er die Schweiz in schwerwiegender Weise gefährdet.

Der Spanier, Bürger eines EU-Landes, war vom Zürcher Obergericht unter anderem für sieben Jahre des Landes verwiesen worden. Bei ihm waren 590 Gramm Kokaingemisch gefunden worden, das er verkaufen wollte.
Die Verurteilung wegen Drogenhandels führt nach Artikel 66a des Strafgesetzbuches zu einer Landesverweisung - und zwar grundsätzlich obligatorisch, völlig unabhängig von der Höhe der Strafe. Der entsprechende Gesetzesartikel trat am 1. Oktober 2016 inkraft.
Schwer wiegende Gefährdung nötig
Der Spanier verlangte vor Bundesgericht die Aufhebung der Landesverweisung. Als EU-Bürger könne er sich auf das Freizügigkeitsabkommen (FZA) zwischen der Schweiz und der EU berufen - genauer: auf Artikel 5 von Anhang I des FZA. Danach dürfen beispielsweise die Einreise oder der Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates nur «durch Massnahmen eingeschränkt werden, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind».
Mit anderen Worten: Das FZA erlaube eine Landesverweisung nur dann, wenn die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit der Schweiz durch den Täter in «schwer wiegender Weise» gefährdet sei. So interpretieren auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) und das Bundesgericht den entsprechenden Artikel.
Welche Bestimmung hat Vorrang?
Weil das Strafgesetz und das FZA also unterschiedlich hohe Hürden für eine Landesverweisung ansetzen, war die zentrale, von den Gerichten bisher unterschiedlich beantwortete Frage: Welche Bestimmung hat Vorrang, Schweizer Strafgesetz oder völkerrechtliches Abkommen?
Die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat sich im heute Mittag veröffentlichten Urteil erstmals vertieft mit dem Verhältnis der beiden Bestimmungen auseinander gesetzt. Die Richter haben dabei die zentrale Frage zwar nicht direkt beantwortet, aber die Bedeutung oder das Gewicht des Abkommens für den Bereich des Strafrechts deutlich relativiert.
Sie bekräftigen damit, was sie bereits Ende letzten Jahres in einem anderen Urteil pointiert so formulierten: «Mit dem FZA vereinbarte die Schweiz keine Freizügigkeit für kriminelle Ausländer.»
Am Wortsinn orientieren
Welche Folgen hat es, wenn Artikel 5 des Anhangs anders interpretiert wird? Bisher gingen die Gerichte davon aus, dass eine strafrechtliche Landesverweisung von EU-Bürgern nur dann möglich ist, wenn sie die öffentliche Sicherheit anhaltend und schwer wiegend gefährden. Mit anderen Worten: Artikel 5 von Anhang I des FZA musste restriktiv interpretiert werden.
Von dieser Auffassung weicht das Bundesgericht nun ab. Die Gerichte haben sich in Zukunft nicht mehr an der engen Auslegung des Artikels zu orientieren, sondern am Wortsinn der Bestimmung. Das heisst: Die Delikte des EU-Bürgers müssen keine schwer wiegende Gefährdung der Schweiz mehr darstellen. Es genügt, dass eine Gefährdung vorliegt.
Bei seiner Entscheidung hat das Gericht aber einen zentralen Grundsatz zu beachten: Die allfällige Einschränkung der vom FZA gewährten Rechte, die mit einer Landesverweisung verbunden wären, muss verhältnismässig sein. Das verlangt die Bundesverfassung von jedem staatlichen Handeln.
Keine Änderung im Ausländerrecht
Das Bundesgericht ist sich bewusst, dass es mit dieser Interpretation von Artikel 5 des Anhangs von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof abweicht. Der EuGH ziele mit seiner Rechtsprechung auf die Harmonisierung und Vertiefung der Europäischen Union ab, schreibt das Bundesgericht. Diesem Ziel müsse sich die Schweiz im Bereich des Strafrechts nicht anschliessen.
Bereits Ende letzten Jahres hatte das Bundesgericht festgestellt, dass sich die bisherigen Interpretation der Landesverweisung am Ausländerrecht orientiert habe. Für eine Landesverweisung auf der Basis des Ausländerrechts muss die Gefährdung der Schweiz bisher und wohl auch in Zukunft schwer wiegend sein.
Zuerst kommt das Schweizer Recht
Dass im Bereich des Strafrechts die Voraussetzungen für eine Landesverweisung von EU-Bürgern gelockert werden, führt zu einer klaren Verschärfung der Praxis. Diese Verschärfung sei vom Volk gewollt, betonte das Bundesgericht. Denn es habe dies mit der Annahme der Ausschaffungsinitiative zum Ausdruck gebracht.
Was bedeutet das Urteil aus Lausanne konkret für die kantonalen Gerichte? Ein Gericht hat auch gegenüber EU-Bürgern «zunächst das ihm vertraute Landesrecht anzuwenden». Sieht das Strafgesetzbuch eine obligatorische Landesverweisung vor, ist in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob ausnahmsweise auf eine Landesverweisung verzichtet werden kann.
Ein Verzicht wäre möglich, wenn die Wegweisung für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Auch wenn die Gerichte bei diesem Entscheid einen Spielraum haben, muss die Härtefallklausel laut Bundesgericht restriktiv angewendet werden.
Hilft auch die Härtefallklausel nicht für einen Verbleib in der Schweiz, prüft das Gericht in einem dritten Schritt, ob völkerrechtliche Verträge wie das FZA ein Hinderungsgrund für die Wegweisung darstellen könnten. Die diesbezüglichen Hürden hat das Bundesgericht mit seinem heuten veröffentlichten Entscheid herabgesetzt.
Der Spanier hatte mit seiner Beschwerde keinen Erfolg. Das FZA habe ihm die Einreise in die Schweiz ermöglicht - zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, nicht zum Verkauf von Drogen. Mit dem beabsichtigten Kokainhandel sei er bewusst das Risiko eingegangen, sein Aufenthaltsrecht gemäss FZA zu verwirken. Denn das FZA «gewährleistet Drogendealern keinen Aufenthalt in der Schweiz».
Urteil 6B_378/2018
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