Burkhard bat sie auf dem Sterbebett: «Halt die Zeller Spiele am Leben»
Ursula Schellenberg arbeitete über zehn Jahre lang eng mit dem Komponisten Paul Burkhard zusammen. Zu dessen 100. Geburtstag will sie seine Werke einer breiten Öffentlichkeit in Erinnerung rufen.
Von Helene Arnet Zell – Wenn Ursula Schellenberg über Paul Burkhards «Bäbistube» spricht, erzählt sie zwischen den Zeilen auch über ihre eigene Beziehung zum Schweizer Komponisten, der mit «O mein Papa» einer der seltenen Schweizer Welthits landete. Dieser Welterfolg ermöglichte es dem Stadtzürcher, 1959 in Zell ein Haus zu bauen. Ein Landhaus am Hang mit Rebhäuschen und weitem Blick. Gleichzeitig gab er beim dortigen Schreiner ein Puppenhaus in Auftrag. Darin inszenierte Burkhard Familienidyllen: Blumentrögli auf den Fenstersimsen, gehäkelte Decken trocknen im Estrich an der Wäscheleine. Die Kinder spielen mit Eisenbahnen, die Tochter des Hauses spielt Klavier. «Das ist das kindliche Gemüt, das Burkhard zeitlebens hatte», sagt Schellenberg. Und aus ihr spricht die liebevolle Fürsorge, welche sie noch heute für diesen Mann empfindet. Ursula Schellenberg erinnert sich gut, wie sie als Zwanzigjährige erstmals den Burkhards begegnete. Die Eltern ihres Freundes und künftigen Mannes halfen den Geschwistern Lisa und Paul Burkhard im Garten und im Haushalt. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft. Ursula Schellenberg ist heute noch verwundert darüber, wie klar es damals allen – ausser ihr selbst – war, dass sie fortan für Paul Burkhard Schreibarbeiten übernehmen würde. «Ich hatte bereits ein Bewerbungsschreiben für einen Chefsekretärinnen-Posten ausgefüllt, da hiess es, du kannst doch dem Paul helfen.» Erst erledigte sie seine Korrespondenz, dann schrieb sie die Textbücher ins Reine. Schliesslich übernahm sie für ihn auch Klavierbegleitungen. Ohne Lohn, doch quasi als Ziehfamilie. «Wenn ihr dann mal das Haus habt . . .», pflegte Lisa Burkhard zu sagen. In den letzten 13 Jahren seines Lebens verbrachte ausser seiner Schwester Lisa kein Mensch so viel Zeit mit Paul Burkhard wie Ursula Schellenberg. Die Erbin Burkhards Schellenberg sagt: «Die schönsten Momente waren, wenn ich Paul chauffierte.» Burkhard fuhr selber nicht Auto. Er könne sich nicht aufs Fahren konzentrieren, weil ihn das Motorengeräusch immer ins Komponieren bringe, erklärte er ihr. «Er schätzte es, gemütlich durch die Landschaft zu gondeln. Dabei wurde er oft sehr gesprächig und lustig.» Ursula und Georges Schellenberg wurden von den Burkhards als Erben eingesetzt. Sie zogen nach dem Tod der Geschwister (1977 beziehungsweise 1978) ins Burkhard-Haus und zogen dort auch ihre beiden Kinder auf. Seit kurzem wohnt ihr 35-jähriger Sohn dort. Noch immer sei das ganze Haus für sie voller Erinnerungen an Paul Burkhard, sagt sie. «Darüber bin ich sehr glücklich.» Die Sehnsucht nach dem Freund Im Musikzimmer sieht alles aus, als ob Burkhard erst gerade den Deckel seines Flügels zugeklappt hätte. Der Flügel ist eine Spezialanfertigung, welche die 20-jährige Lisa einst bei Bechstein in Auftrag gegeben und Monat für Monat abgestottert hatte. Aus Kirschholz solle er sein, nicht wie üblich in düsterem Schwarz. Ihr 12-jähriger Bruder sei nämlich ein Wunderkind und werde einmal Komponist. Neben dem Flügel steht ein mannsgrosser Clown, eine Reminiszenz an «O mein Papa». Das Meissner Porzellan der Mama ist in einem Glaskasten ausgestellt. Im Büchergestell stehen Mark Aurels Selbstbetrachtungen, die Werke von Thomas Mann und C. G Jung, aber auch Michael Endes Jim Knopf. Burkhards Welt war vielschichtig. An der Wand hängen Bilder des Malers Walter Sautter. Auch ein Selbstbildnis dieses Jugendfreunds, dem Burkhard seine ganze Liebe geschenkt hatte – der dann heiratete und ihn damit in tiefstes Elend stürzte. Ursula Schellenberg erinnert sich an viele Momente, in denen der Komponist beim Anblick dieses Porträts von schwerer Melancholie ergriffen wurde. Einmal habe er sinniert: «Wie wäre es wohl rausgekommen, wenn auch ich geheiratet hätte?» Dann habe er gelächelt: «Ist schon gut, wie es kam. Nach Grossmama, Mama und Lisa hätte mir eine vierte Frau Angst gemacht.» Der Bethlehem-Stern über Zell Durch das offene Fenster dringt Glockengeläut. Jenes Geläut, welches die Originalaufnahme der «Zäller Wiehnacht» einleitet. Sofort sind die Melodien im Ohr: «Das isch de Schtärn vo Bethlehem», «Kei Mueter weiss». Wiederholt hat Burkhard Ursula Schellenberg erzählt, wie ihn das Lampenfieber bei der Uraufführung geschüttelt habe. Nicht bei der «Kleinen Niederdorfoper», nicht beim «Schwarzen Hecht» sei das Lampenfieber so schlimm gewesen. Tatsächlich reagierten seine Freunde und Kollegen irritiert: Der Päuli schreibt für Kinder, und etwas Religiöses! Neugierig fuhren die Städter in das kleine Dorf im Zürcher Oberland. Erst waren sie verblüfft, dann ergriffen, dann begeistert. Friedrich Dürrenmatt gratulierte: «Das ist dein bedeutendstes Werk.» Der Umzug nach Zell und die kurz darauf aufgeführte «Zäller Wiehnacht» ist ein Wendepunkt in Burkhards Leben. Seine tiefe Gläubigkeit brach ans Licht. Der Protestant Burkhard reiste nach Rom, nach Israel, auf den Berg Athos – und verbrachte Monate im Kloster Niederaltaich, wo Mönche im römischen und byzantinischen Ritus zusammenleben. «Er war tiefreligiös, hatte aber nichts Frömmlerisches oder Missionarisches an sich», sagt Ursula Schellenberg. Burkhard lud Geistliche zu sich ein, um mit ihnen Glaubensfragen zu diskutieren. Das seien oft sehr «fröhliche Abende» gewesen, sagt Schellenberg. «Sie kamen gern zu Paul und Lisa. Wegen der Gespräche – und weil Lisa sehr gut kochte.» Kurz vor seinem Tod konvertierte Paul Burkhard zum Katholizismus. Und er nahm in Ruhe und offenbar im Frieden mit sich und der Welt Abschied. Auf dem Sterbebett rief er Ursula Schellenberg zu sich: «Ich wünsche mir nur eines von dir: Halt die Zeller Spiele am Leben.» Ein Vermächtnis, das Ursula Schellenbergs Leben seither prägt. Sie gründete einen Kinderchor, bildete sich am Konservatorium Luzern weiter, besuchte Kurse bei Rosmarie Metzenthin, nahm nochmals Klavier- und Gesangsunterricht. Bis vor wenigen Jahren wurden die Zeller Spiele regelmässig aufgeführt. Zwanzig Jahre lang unter Schellenbergs Leitung, dann fand sie einen Nachfolger. Seit kurzem pausiert der Kinderchor, weil er zu wenig Mitglieder hat. Doch konnte Ursula Schellenberg zum 100. Geburtstag Burkhards die Primarschule Zell motivieren, die «Zäller Wiehnacht» aufzuführen. Der «Schtärn vo Bethlehem» leuchtet weiter in Zell. «Die Geistlichen kamen gerne zu Paul und Lisa Burkhard. Wegen der Gespräche – und weil Lisa sehr gut kochte.» Ursula Schellenberg Burkhards Nachlassverwalterin Ursula Schellenberg im Musikzimmer (mit Puppenhaus) des Komponisten.Foto: Reto Oeschger
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