Cassis gerät in Turbulenzen
Nach seinem Verzicht auf die italienische Staatsbürgerschaft werfen Politiker aller Lager Bundesratskandidat Ignazio Cassis Opportunismus vor.

Bis jetzt verlief die Bundesratskandidatur von Ignazio Cassis so stromlinienförmig, wie sie nur verlaufen konnte. Doch jetzt gerät der FDP-Favorit erstmals ins Widerwasser – provoziert durch seinen Verzicht auf die italienische Staatsbürgerschaft. «Kann der Freisinn noch tiefer sinken?», fragt SP-Nationalrat Cédric Wermuth (AG) auf Twitter. Cassis' Verzicht auf seinen italienischen Pass sei ein «charakterloser Kniefall vor den Nationalisten».
Linke Parlamentarier teilen Wermuths Kritik praktisch unisono. Doch das Unverständnis für Cassis' Verzicht reicht bis ins bürgerliche und konservative Lager hinein. Er sei «enttäuscht» von Cassis, sagt BDP-Präsident Martin Landolt. «Wer ein Leben lang eine zweite Staatsbürgerschaft hatte, sollte sie nicht kurzfristig über Bord werfen, bloss weil er Bundesrat werden möchte.» Der konservative CVP-Nationalrat Yannick Buttet (VS) wirft Cassis vor, sich dem Druck der SVP gebeugt zu haben. CVP-Nationalrätin Barbara Schmid-Federer (ZH) sagt, es tue ihr «weh, mitanzusehen, wie Ignazio Cassis seine Herkunft verleugnet, bloss um genügend SVP-Stimmen zu erhalten».
Jahrelanger Kampf der SVP
Tatsächlich kämpft die SVP seit Jahren gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Mehrmals forderte sie, Menschen nur noch einzubürgern, falls sie auf ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft verzichten. Bisher sind aber alle entsprechenden Vorstösse gescheitert.
Für SVP-Nationalrat Peter Keller (NW) hat Cassis darum das einzig Richtige getan. «Gerade im bilateralen Verhältnis mit Italien wäre Cassis als Bundesrat in Interessenkonflikte geraten.» Mit dieser Argumentation begründet auch Cassis selber seinen Verzicht. «Für mich ist klar: Wenn jemand Mitglied unserer Landesregierung ist, dürfen keine Zweifel an seiner Loyalität zur Schweiz entstehen», hielt Cassis gegenüber der Nachrichtenagentur SDA fest.
Cassis' FDP-Kollegen reagieren gespalten. Für Ständerat Olivier Français (VD) könnte eine zweite Staatsbürgerschaft tatsächlich zum Problem werden, wenn die Schweiz in einem internationalen Konflikt vermittle. «In solchen Fällen könnte ein Doppelbürger nicht gleich neutral wirken wie ein Bundesrat, der nur Schweizer Bürger ist», sagt Français, der bis zu seiner Einbürgerung selber Franzose war. Für Nationalrat Hans-Peter Portmann (ZH) hingegen wäre ein Bundesrat mit Zweitpass «kein Problem».
«Minderwertige Schweizer»
Die SVP nutzt den Fall Cassis, um ihren etwas eingeschlafenen Kampf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft wiederzubeleben. SVP-Nationalrat Marco Chiesa (TI) will in der nächsten Parlamentssession vier Vorstösse dazu einreichen. In drei parlamentarischen Initiativen verlangt er ein Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft für Bundesräte, eidgenössische Parlamentarier und die Mitglieder der eidgenössischen Gerichte. Sollten diese Verbote nicht mehrheitsfähig sein, will Chiesa mit einem vierten Vorstoss wenigstens erreichen, dass die Parlamentarier künftig alle Nationalitäten offenlegen – so wie sie das bereits mit wirtschaftlichen Interessenbindungen tun müssen. «Man kann nicht zwei Herren dienen», sagt Chiesa.
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Für die grüne Nationalrätin Lisa Mazzone (GE) zielen solche Ideen an der helvetischen Realität vorbei. Laut den aktuellsten Zahlen haben über 873 000 Schweizer mindestens einen weiteren Pass – das sind 16,6 Prozent der Bevölkerung. Die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft sei darum «anachronistisch», sagt Mazzone. Überhaupt sei Cassis' Verzicht «nutzlos, denn seine Vorfahren, seine Prägung und seine Verwandten behält er ja», sagt die Nationalrätin, die selber schweizerisch-italienische Doppelbürgerin ist. «Das Einzige, was Cassis erreicht hat, ist, den Doppelbürgern zu signalisieren, dass sie minderwertige Schweizer sind.»
Selbst in der SVP findet Cassis nicht nur Applaus. Nationalrat Alfred Heer (ZH), schweizerisch-italienischer Doppelbürger, sagt: «Wenn jemand auf seine zweite Staatsbürgerschaft verzichtet, nur weil er Bundesrat werden will, ist das eher ein Zeichen von Schwäche.»
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