Comiczeichner erfinden das Disney-Universum neu
In «Die jungen Jahre von Micky», dem neusten Band des Franzosen Tébo, erzählt der gealterte Mäuserich von früher – erfrischend forsch, erfrischend salopp.
Die Lage im Wilden Westen scheint aussichtslos. Micky Maus, auf der Suche nach einem Goldschatz, rast mit dem Zug auf einen Abgrund zu – die Brücke hat Kater Karlo gerade in die Luft gesprengt. Was also tun? Micky fackelt nicht lange, springt im Fallen auf sein Pferd und hebt zum rettenden Satz in eine Felsnische an, während der Zug in die Tiefe donnert.
Diese doppelseitige Splashpage mit zeitlich versetzten Mehrfachzeichnungen ist eine einzige Übertreibung, keine Frage, aber gerade das ist die Essenz des Bandes «Die jungen Jahre von Micky». Der Disney-Mäuserich ist hier zum bärtigen Greis gealtert, der seinem Urgrossneffen Norbert Anekdoten von früher erzählt und es dabei mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Der vorlaute Junior mault zum Beispiel: «Ist das nicht etwas übertrieben, nach jedem Satz ‹Yiha› oder ‹Yippie› zu schreien?» Micky muss dem Naseweis beipflichten.
Was folgt, ist eine reizvolle Annäherung zwischen Rahmenhandlung und Binnengeschichte, wenn der brillentragende Senior seine nicht mehr so klaren Erinnerungen ständig seiner Zuhörerschaft anzupassen hat. Aber was soll Micky auch machen, wenn er bei der kleinsten amourösen Flunkerei von seiner Minni eins mit dem Nudelholz übergezogen bekommt.
Mit forscher Erzählweise
«Die jungen Jahre von Micky» von Tébo (geboren 1972 als Frédéric Thébault in Caen) ist der vierte Band der exquisiten Disney-Hommage-Reihe. Darin interpretieren europäische Künstler die amerikanischen Funny-Figuren neu und orientieren sich dabei am Frühwerk des prägenden Micky-Zeichners Floyd Gottfredson. Und da zeigt sich: Die bildhafte Nostalgie dieser Bände steht in reizvollem Kontrast zur forschen Erzählweise; kein Vergleich zum weichgespülten Geschehen aus aktuellen Entenhausener Abenteuern.
In Tébos Auftaktgeschichte «Der Goldrausch» etwa verkommt Stadtmaus Micky zur Lachnummer und wird von Cowboys als Primaballerina veräppelt. Da wird die sonst so besonnene Maus handgreiflich und droht den ungehobelten Gestalten mit Dynamit. Oder dann Donald: Als der notorische Unglückserpel bei der Erstlandung auf dem Mond («Wettlauf zu den Sternen») einen bedeutsamen Satz sagen soll, bekommt er einen solchen Stress im Kopf, dass ihm versehentlich entfährt: «Was hab ich denn da für ein Dreckzeug am Schlappen kleben?»

Viel salopper gehts nicht. Und das Formidabelste: Jeder Autor dieser Comicreihe verfolgt einen eigenen Retroansatz. Der Westschweizer Cosey, der 2017 am Comicfestival Angoulême mit dem Grand Prix fürs Lebenswerk geehrt wurde, erzählt im Auftaktband «Eine geheimnisvolle Melodie», wie Micky 1927 als Hollywood-Drehbuchautor seiner Minni begegnete. Lewis Trondheim und Nicolas Keramidas flunkern im zweiten Band «Mickey's Craziest Adventures» von angeblich verschollenen Fortsetzungsgeschichten aus den Sechzigerjahren (dabei ist alles neu). Und Régis Loisel lässt im dritten Œuvre «Café Zombo» Micky und Co. zur Zeit der Grossen Depression auf Arbeitssuche gehen. So viel Sozialkritik gabs bei Disney noch nie.
Bei Tébo, der 2017 für «Die jungen Jahre von Micky» in Angoulême den Prix Jeunesse erhielt, erleben wir in Band 4 eine Verschränkung der Disney-Frühzeit mit der Gegenwart. Mal erzählt Grossvater Micky, wie er den Ersten Weltkrieg beendete, mal schwelgt er darin, wie er in einer ausser Kontrolle geratenden Schokoladenfabrik Kater Karlo in Milch kochte. In dieser Geschichte ändert sich mit Beginn des süssen Chaos nach abermaliger Splashpage auch die Leserichtung. Da wirbelt einem der Kopf. Oder, wie es Micky nach einem Schreckmoment forsch formuliert: «Wenn ich eins hasse, dann zu sterben, wenn ich zum Waffelessen eingeladen bin.»
Tébo: «Die jungen Jahre von Micky». Egmont Comic Collection, 80 S., 40.50 Franken.
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