Da braut sich für die Schweiz etwas zusammen
An einem Schiedsgericht in Washington kommt ein Millionen-Prozess auf die Schweiz zu – der Erste seiner Art. Wer der Angreifer ist und wofür er Schadenersatz fordert, hält der Bund geheim.

Am 21. Januar 2015 sandte die Eidgenossenschaft einen Notruf aus. Man suche eine Anwaltskanzlei, lautete die Nachricht. Die Schweiz müsse damit rechnen, in einen komplizierten Prozess verwickelt zu werden. Man brauche mindestens vier Anwälte, davon zwei auf Stufe Partner. Maximaler Aufwand ab April 2015 bis 2020, wenn alle Schlichtungsversuche scheitern sollten: 17'810 Stunden. Bei einem vorsichtig geschätzten Stundenansatz von 400 Franken ergibt das total 7'124'000 Franken.
Der Chefanwalt und sein Stellvertreter müssen fliessend Deutsch, Französisch und Englisch sprechen. Die gewünschten juristischen Qualifikationen füllen drei Seiten. Wer den Auftrag will, muss sich zuerst vom VBS durchleuchten lassen. Und offenlegen, wie gut die Informatik der Kanzlei gegen Hackerangriffe geschützt ist. So lauten die Bedingungen, welche die Schweiz auf der Vergabeplattform Simap.ch publiziert hat.
Wer interessiert sei, solle sich bis zum 16. Februar 2015 bewerben, Dokumente in vierfacher Ausführung. Die Loge beim Bundesamt für Logistik habe bis 16.00 Uhr geöffnet.
Garantierte «billable hours»
Seither herrscht Nervosität bei vielen grossen Anwaltskanzleien des Landes. Einen solchen Fall gab es noch nie. Die Eidgenossenschaft zu vertreten, das bedeutet Prestige. Und ein Auftrag dieser Grösse, das könnte auf Jahre hinaus garantierte «billable hours» bedeuten, verrechenbare Stunden.
Die Kanzleien trauten der Sache nicht recht: Der Bund hält bis heute geheim, wer der Angreifer ist. Die Anwälte müssten also versprechen, für die Schweiz den Schild zu halten – ohne zu wissen, wer mit gezücktem Schwert auf sie zustürmt.
Aus den Unterlagen, die das Bundesamt für Justiz in seiner Ausschreibung publizierte, lassen sich aber einige Informationen herausfiltern. Der Streit begann im April 2014, als in Bern ein Schreiben eintraf. Titel: «Notification de l'existence d'un différend», etwa: «Benachrichtigung über die Existenz einer Streitsache». Das Bundesamt für Justiz bestätigt das Verfahren heute. Am 28. November 2014 habe der Bundesrat das Departement Sommaruga angewiesen, sich um die Vertretung der Schweiz zu kümmern. «Ausländische Anspruchsteller behaupten, dass ihre Rechte verletzt worden sind, und verlangen Schadenersatz», schreibt ein Sprecher. Für weitere Informationen sei es noch zu früh, da «verschiedene Fallszenarien» möglich seien.
Wie Holcim gegen Venezuela
Es geht also um sogenannten Investitionsschutz. Die Schweiz als Beklagte in einem solchen Verfahren? Das klingt nach verkehrter Welt. Normalerweise sind es Schweizer Unternehmen, die gegen andere Staaten klagen, wenn eine Regierung ihr Geschäft stört oder abwürgt. Ein Beispiel ist der Zementkonzern Holcim. Der hatte 2009 gegen Venezuela geklagt, weil die Regierung von Hugo Chávez dessen lokale Tochtergesellschaft verstaatlicht hatte. Holcim und Venezuela einigten sich auf eine Entschädigung von 650 Millionen Dollar, welche das Land in Raten abzahlte.
Die Besonderheit: Das Verfahren fand nicht vor einem staatlichen Gericht statt, sondern vor einem internationalen Schiedsgericht in Washington, dem International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID). Das Tribunal kommt ins Spiel, wenn spezielle Staatsverträge es vorsehen, sogenannte Investitionsschutzabkommen.
Die Schweiz hat mit rund 120 Staaten solche Verträge geschlossen. Die Idee dahinter: Ein Land gibt einen Teil seiner Gerichtsbarkeit ab – und wird dadurch für Investoren attraktiver.
Bis in die 90er-Jahre hinein gab es nur selten Prozesse am ICSID oder ähnlichen Schiedsgerichten. Nach dem Zusammenbrechen der Sowjetunion nahmen internationale Investitionen zu – damit wuchsen auch die Risiken. Dazu kam die Kreativität der Juristen. Sie begannen, den Begriff der «Enteignung» auszuweiten. Die Zahl der Verfahren stieg an. Der Tabakkonzern Philip Morris etwa klagte gegen Uruguay. Das Land hatte seine Tabakpräventionsgesetze verschärft. Und der US-Ölmulti Occidental Petroleum ging gegen Ecuador vor. Die Regierung hatte dem Konzern Bohrlizenzen entzogen.
Früher lief Investitionsschutz vor allem in eine Richtung: Vom Westen in Richtung Entwicklungs- und Schwellenländer. Das änderte sich in jüngster Zeit. Westeuropa musste feststellen: Diese Verträge sind keine Einbahnstrassen. Deutschland spürte das zum ersten Mal 2009, als der schwedische Energiekonzern Vattenfall gegen die Bundesrepublik klagte – ein Kohlekraftwerk hatte strenge Umweltschutzauflagen erhalten. Zu strenge, befand Vattenfall. Der Streit endete mit einem Vergleich.
Und nun ist die Schweiz an der Reihe.
Despot? Oligarch? Bank?
Redet man mit Anwälten, die sich auf die Ausschreibung gemeldet haben, muss man vorab versprechen, den Namen der Kanzlei nicht zu nennen. Aus Off-the-record-Gesprächen ergibt sich ein merkwürdiges Bild: Niemand scheint eine Ahnung zu haben, worum sich der Streit dreht. «Ich will nicht einmal raten, wer der Kläger sein könnte», sagt ein Anwalt. Spekuliert wird dann doch: Es könnte ein afrikanischer Despot sein, dessen Gelder in der Schweiz eingefroren sind. Oder eine Bank, die hier Dokumente abliefern musste und deshalb Millionen verlor. Oder ein Oligarch. «Es gibt unzählige Möglichkeiten», sagt einer der Anwälte.
Früher oder später muss der Bund offenlegen, um wie viele Millionen und um wen es geht – das Verfahren in Washington ist öffentlich. Gegenwärtig gärt der Streit vor sich hin, es läuft eine zwölfmonatige «Konsultationsphase». Die Schweiz und die Gegenseite versuchen, sich zu einigen, ohne das Schiedsgericht anzurufen. Es kann sein, dass ein Vergleich zustandekommt. Dann zahlt die Schweiz, und der Prozess fällt dahin. Aber die Zeit dafür läuft langsam ab. Im April darf der Gegner klagen.
Letzten Montag endete die Ausschreibung. Mindestens drei Kanzleien haben Dossiers eingereicht. Ihre Anwälte werden sich am 9. und 10. März beim Bundesamt für Justiz vorstellen und ein 85-minütiges «Casting» durchlaufen (Beamer, Stromanschluss und WLAN werden gestellt). Danach wird eine bis zu siebenköpfige Jury nach einem komplizierten Schlüssel Punkte verteilen. Die Stundenansätze spielen eine Rolle, Diplome, Qualifikationen und Erfahrung. 10'000 Punkte sind das Maximum.
Wer die meisten Punkte sammelt, erhält Auftrag und Renomee. Plus ein Spesenbudget für Auslandreisen bis maximal 250'000 Franken.
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