Darf ein Schweizer Pfarrer einem Flüchtling ein Bett geben?
Pro Jahr werden fast 1000 Schweizer Flüchtlingshelfer verurteilt – auch solche, die aus Nächstenliebe handeln. Jetzt muss der Nationalrat über eine Gesetzesänderung entscheiden.

Es ist Sonntag, kurz vor 11 Uhr, die evangelische Freikirche in Le Locle feiert wie jede Woche ihren Gottesdienst, als die Polizei einmarschiert. Sie fragt nach dem Pastor und nimmt ihn mit.
Das war am 11. Februar 2018. Inzwischen ist der heute 64-jährige Pastor Norbert Valley von der Neuenburger Staatsanwaltschaft per Strafbefehl verurteilt worden. Sein Delikt: Valley hat einem abgewiesenen Asylbewerber aus Togo den Schlüssel zu seiner Kirche gegeben, damit er dort schlafen kann. Und er hat dem Togoer auch «mehrere Mahlzeiten» spendiert, wie ihm die Staatsanwaltschaft vorwirft. Das Verdikt für Valley: eine bedingte Geldstrafe von 1000 Franken, inklusive Eintrag im Strafregister.
«Es geht doch nicht, dass man einem solchen Menschen nicht hilft.»
«Skandalös» sei dieses Urteil, sagt Valley heute. Der 34-jährige Flüchtling sei damals in existenzieller Not gewesen: Nach der Ablehnung seines Asylgesuches hatte er kein Dach mehr über dem Kopf. «Es geht doch nicht, dass man einem solchen Menschen nicht hilft», sagt Valley. Er zitiert ein Wort von Jesus Christus: «Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.»
Das «Delikt der Solidarität»
Vor der Schweizer Justiz zählt das Matthäusevangelium jedoch nichts. Verurteilt wurde Valley gestützt auf den Schlepper-Paragrafen im Ausländer- und Integrationsgesetz, den Artikel 116. Dieser richtet sich zum einen gegen kriminelle Schlepper. Aber auch gegen Personen, die einem Ausländer den «rechtswidrigen Aufenthalt» in der Schweiz «erleichtern». Zum Beispiel, indem sie ihm ein Bett oder eine warme Mahlzeit verschaffen. Vom «Delikt der Solidarität» sprechen Menschenrechtsorganisationen. Gestützt darauf verurteilt wurden unter anderem auch die Flüchtlingshelferinnen Anni Lanz und Lisa Bosia Mirra.

Dieses «Delikt der Solidarität» soll nun entkriminalisiert werden. Das fordert die grüne Genfer Ständerätin Lisa Mazzone in einer parlamentarischen Initiative, die diese oder nächste Woche im Nationalrat beraten wird. Mazzone verlangt, dass sich Flüchtlingshelfer nicht mehr strafbar machen, wenn sie «aus achtenswerten Gründen» handeln. Unterstützt wird ihre Forderung von Menschenrechtsorganisationen, von der reformierten und der katholischen Kirche sowie von der Schweizerischen Evangelischen Allianz. Deren welscher Zweig wurde früher von Pastor Valley selber präsidiert.
Valley ist bei weitem kein Einzelfall. Das zeigt eine bisher kaum beachtete Statistik des Bundes: Allein im Jahr 2018 – aktuellere Zahlen sind nicht verfügbar – wurden 962 Personen wegen eines Verstosses gegen den Artikel 116 verurteilt. Nur bei 32 Personen davon handelt es sich um kriminelle Schlepper, die aus reiner Bereicherungsabsicht Flüchtlinge über die Grenze geschmuggelt haben.
«Personen, die nur auf ihr Herz gehört haben, werden behandelt wie Schlepper.»
Wer sind die anderen 930 Verurteilten? Darüber schweigt sich die Statistik im Detail aus. Bekannt ist nur, dass 622 Verurteilte selber einen ausländischen Pass haben. Ihr Delikt war vermutlich, dass sie einem abgewiesenen Familienmitglied oder einem Landsmann widerrechtlich Unterschlupf gewährt haben. Die übrigen über 300 Verurteilten sind Schweizer. Darunter dürften sich Dutzende, vielleicht gar Hunderte von Leuten wie Anni Lanz oder Norbert Valley befinden.
Die Mehrheit winkt ab
«Personen, die nur auf ihr Herz gehört haben, werden behandelt wie Schlepper», kritisiert Manon Schick, Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz. Die Menschenrechtsorganisation stellte am Dienstag eine europaweite Bestandesaufnahme zum «Delikt der Solidarität» vor. Die 90-seitige Studie steht unter dem Titel «Punishing Passion». Zu Deutsch: «Barmherzigkeit bestrafen».
Laut Schick zeigten sich die ausländischen Amnesty-Sektionen überrascht, wie streng selbst die humanitäre Schweiz gegen Flüchtlingshelfer aus Gewissensgründen vorgehe. Der Amnesty-Bericht kommt zum Schluss, dass die geltende Schweizer Rechtslage «viel Spielraum für die Verfolgung von Menschenrechtsverteidigern» ermögliche. Darum brauche es im Gesetz für Flüchtlingshelfer aus Gewissensgründen eine Ausnahme.
Die vorberatende Kommission des Nationalrats sieht das anders. Eine Mehrheit, bestehend aus den Vertretern von SVP, FDP und CVP, lehnt Mazzones Vorstoss ab. Ihre Begründung ist nur wenige Zeilen lang: Es gebe keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Aktuelle Urteile würden zeigen, dass Flüchtlingshelfer aus humanitären Gründen verhältnismässig beurteilt würden. Die Gerichte würden in diesen Fällen «von hohen Strafen absehen», schreibt die Kommissionsmehrheit.
Egal, was der Nationalrat entscheiden wird: Pastor Valley ist entschlossen, nicht klein beizugeben. Den Strafbefehl hat er vor Gericht angefochten. «Was legal ist, ist nicht unbedingt moralisch richtig. Ich habe nur meine Pflicht getan, einem Menschen in Gefahr zu helfen», schrieb er dem Staatsanwalt. Nächste Woche, am 12. März, ist Valley nun am Polizeigericht von La Chaux-de-Fonds vorgeladen. Sollte dieses die Verurteilung bestätigen, will Valley seinen Fall weiterziehen – wenn es sein muss, bis nach Strassburg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
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