
Mehr als ein Land ist die Schweiz für viele Staaten, Unternehmen und Konsumenten ein Gütesiegel. Produkte «made in Switzerland» stehen für Qualität. Sie gelten als sicher. Nicht ohne Grund wirbt beispielsweise der Genfer E-Mail-Verschlüsselungsdienst Protonmail mit dem Matterhorn. Die Schweizerinnen und Schweizer zeichnen von ihrem Land gerne das Bild einer wehrhaften, aber sympathischen Alpenrepublik, einem Hort der Sicherheit und Unabhängigkeit.
In den letzten Jahrzehnten haben auch mehr als 100 Regierungen auf die Sicherheit eines Schweizer Herstellers vertraut. Wie Reporter von ZDF, SRF, «Washington Post» und unserem Recherchedesk diese Woche in der weltumspannenden Spionageaffäre um die Zuger Crypto AG enthüllt haben, wurden sie aufs Perfideste getäuscht. Nicht nur von der Firma selbst. Laut Dokumenten des US-Geheimdiensts CIA sogar von den höchsten Stellen unseres Landes. Nach der Krise um die nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern in den 90er-Jahren und dem Angriff auf das Bankgeheimnis in den Nullerjahren droht die Schweiz erneut durchgeschüttelt zu werden.
Die Crypto-Affäre stellt in neuer Schärfe das Selbstverständnis der Schweiz als Good Guy der Weltgeschichte infrage. Mehr noch: Die Dimension der Spionageaktion von CIA und Bundesnachrichtendienst (BND) mit manipulierten Chiffriergeräten Schweizer Güte beraubt unser Land gleich einer doppelten Illusion.
Die innenpolitische Überhöhung der schweizerischen Neutralität steht im Widerspruch zur heutigen aussenpolitischen Realität.
Erstens war unsere Neutralität auch nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Fiktion als Realität, die Schweiz im besten Fall eine «Neutrale des Westens». Und zweitens, unerwarteter und darum umso schockierender: Wenn – wie die Cryptoleaks enthüllen – plötzlich Akten verschwinden, Probleme vertuscht und illegale Aktivitäten geduldet werden, hat das nicht mehr viel mit einem gut regierten und von integren Beamten verwalteten Staat zu tun. Da hat der Sicherheitsapparat die Rechtsordnung ausgehebelt.
Die Neutralität wird nicht zum ersten Mal als Lebenslüge bezeichnet. Doch bisher konnte das ihrem Image in der Schweiz wenig anhaben. Im aktuellen Sicherheitsbericht der ETH feiert sie ein Allzeithoch. Sagenhafte 96 Prozent der Befragten sprechen sich für ihre Beibehaltung aus. Warum es sie braucht, wird weniger klar. Sie werde als etwas Erhabenes empfunden, erklärt Historiker Georg Kreis den Mythos. So verklären Politiker die Neutralität in ihren 1.-August-Reden: die Neutralität, ein zentrales Symbol schweizerischer Identität.
Die innenpolitische Überhöhung steht im Widerspruch zur heutigen aussenpolitischen Realität. In einer multipolaren Welt haben Ansehen und Bedeutung der Neutralität drastisch abgenommen. Als Kampfbegriff, um den Alleingang zu propagieren, taugt sie sowieso nicht. So unabhängig und neutral, wie SVP-Übervater Christoph Blocher die Schweiz gerne darstellt – sie ist es nicht. Im Zweiten Weltkrieg verletzte sie das Haager Neutralitätsrecht gleich mehrfach – etwa durch Kriegsmaterialexporte aus bundeseigenen Produktionsstätten oder lasche Kontrollen des Transitverkehrs zwischen den Achsenmächten.
Der Bundesrat darf seine Rolle angesichts der Verstrickungen nicht eigenmächtig klären. Auch bei der Geschäftsprüfungsdelegation, die das Heft an sich gerissen hat, stellt sich die Frage, ob ihr als Geheimdienstaufsicht nicht auch Fehler unterlaufen sind.
Die Neutralität muss deswegen nicht gleich abgeschafft werden. Man sollte den Schweizerinnen und Schweizern diese ideelle Heimat nicht rauben. Als aussenpolitische Doktrin hat sich die Neutralität im völkerrechtlichen Sinn jedoch überlebt. «Mythen sind etwas Schönes», sagt Historiker Kreis. «Aber Mythen machen auch ein wenig realitätsblind.»
Die Schweiz ist heute normaler, als es viele Bürgerinnen und Bürger gerne hätten. Der Nimbus des Sonderfalls verschwindet. Micheline Calmy-Rey hatte noch versucht, der Neutralität eine neue, aktivere Richtung zu geben, und sie als Friedensmission interpretiert. In Bundesrat Ignazio Cassis' Bericht zur aussenpolitischen Vision 2028 taucht die Neutralität aber als Pfeiler nicht mehr auf. Schnörkellos ehrlich ist nur noch von «klardefinierten Interessen» die Rede.
Dennoch muss die Crypto-Affäre schonungslos aufgeklärt werden. Die Schweizer Bevölkerung hat ein Anrecht, zu wissen, wer wann was über die Machenschaften der Zuger Firma wusste. Der ehemalige Verteidigungsminister Kaspar Villiger beteuert, über den Coup trotz belastender CIA-Papiere nicht im Bild gewesen zu sein.
Der Bundesrat darf seine Rolle angesichts der Verstrickungen nicht eigenmächtig klären. Auch bei der Geschäftsprüfungsdelegation, die das Heft an sich gerissen hat, stellt sich die Frage, ob ihr als Geheimdienstaufsicht nicht auch Fehler unterlaufen sind. Das sechsköpfige Gremium verfügt überdies nicht über die Ressourcen, um die Wahrheit lückenlos ans Licht zu bringen. Diese Mittel und diese Kraft hat nur eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK). So kann das Parlament auch zeigen, dass es die Sache wirklich ernst nimmt.
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Das Ende der Illusionen
Nach der Crypto-Affäre darf sich die Schweiz nicht länger ihrer Selbsttäuschung als Good Guy der Welt hingeben.