Das Ende einer Zürcher Institution
Aus dem Filmkollektiv Zürich sind rund 80 Filme hervorgegangen, von den 70er-Jahren bis heute. Jetzt löst sie sich auf.

«Wir sind hier unten», ruft Urs Graf. Also kehrt man wieder um und geht die Treppe hinab ins Souterrain, denn dort hat das Filmkollektiv Zürich seine Räume. Sie liegen im Kreis 6, in einem dieser Jahrhundertwendehäusern zwischen Anwaltskanzleien und Arztpraxen, wo alles wunderbar ruhig ist. Graf zeigt die Magnetbänder, die sich auf den Tischen stapeln, öffnet Kartonschachteln mit Mischplänen. In der Ecke steht ein alter Steenbeck-Schneidetisch, den wolle heute keiner mehr. Aber die Bänder schon, die kämen jetzt in die Cinéma- thèque in Lausanne, die Leute von dort seien einfach noch nicht aufgekreuzt.
Es sei gut, dass das noch jemand nehme, vielleicht strahle es für andere ja noch eine «Aura» aus. Er selber aber, was soll er damit? Urs Graf ist 77, und dieses Jahr löst sich das Filmkollektiv Zürich auf. Ein Kollektiv, das rund 80 Filme produziert oder mitproduziert hat, darunter «Les petites fugues» von Yves Yersin, Alexander J. Seilers «Palaver, Palaver», Dokumentarfilme von Richard Dindo, Thomas Imbach, Christian Labhart. Und natürlich von Urs Graf.
Jetzt, zum Ende hin, besteht die Gruppe noch aus einem Kern von vier Leuten, Graf inbegriffen. Er selbst bezeichnet sich als «so etwas wie eine Art Geschäftsführer». Das schrieb er in einem Brief an die AHV. Er erklärte darin der Sachbearbeiterin, was das sein soll: ein freier Filmautor. Der Brief wurde fünf Seiten lang, Urs Graf scheint sich beim Schreiben selbst über einige Dinge klar geworden zu sein. Wie es 1975 angefangen hat zum Beispiel, im Gründungsjahr des Filmkollektivs, als der Oltner schon mitgewirkt hat am Kurzfilm «Kaiseraugst» über die Besetzung des AKW-Baugeländes. Darin erzählt eine Aargauer Hausfrau, sie stricke lieber im Licht einer Kerze, als dass sie vor dem Haus etwas habe, was man nachher nicht mehr wegräumen könne.
Bitte kein «Aha»-Moment
So wurde das Filmkollektiv geboren, aus einer Gruppe von Bewegten um die damalige Filmcooperative, die ihrerseits längst zum Verleih Filmcoopi herangewachsen ist. In Protestzeiten wollte man im Kollektiv Filme produzieren und führte uferlose Diskussionen über Selbstorganisation. Weil das ZDF, das damals irrsinnig gute Dinge produziert habe, nur Aktiengesellschaften als Partner akzeptierte, gründete man eine AG. Urs Graf legt eine Namensliste hin, «Mitglieder mit Aktien, 75–92», darunter: Richard Dindo, Hans Stürm, Renato Berta, Mathias Knauer. Und Urs Graf natürlich, der, wenn er heute über die Interventionsfilme von damals spricht, sagt, dass sie eine gute Sache gewesen seien, womit er meint: noch lange nicht gut genug.
Gut würden Filme erst, wenn der Regisseur aufhöre zu argumentieren und beginne, die Fragen und Zweifel, die er an etwas habe, immer weiter zu vertiefen. «Ich ärgere mich über Filme, die durch die Montage etwas so zuspitzen, dass das Publikum ‹Aha!› macht. Weil es denkt, der Film bringe etwas auf den Punkt. So einfach ist die Welt nicht.» Graf, das merkt man rasch, mag es nicht, wenn man etwas auf den Punkt bringt, so nämlich verliert ein Thema Reichtum und Widersprüchlichkeit. Für falsche Verdichtungen hat er keine Geduld, und gar nicht ausstehen kann er, wenn irgendeiner die Zuschauer «abholen» will.
Hauptamtliches Herumliegen
Seine Skepsis mag mit einer Erfahrung von früher zu tun haben, als er Grafiker war und für Warenhäuser Verpackungen gestaltete. Irgendwann seien die Werbepsychologen aufgetaucht, um mittels dicker Handbücher zu bestimmen, wie man Kunden am besten anspricht. Ein Zynismus des Verkaufens, der Frust in Konsum umwandeln will, sagt Graf. Seine eigenen Filme hingegen bestünden aus komplexen Strängen, an denen er so lange «knete», bis sie beim Zuschauer eine Eigenaktivität auslösen. Erst wenn er einmal so weit sei, sei es gut.
In den letzten Jahren hat Graf drei schöne Porträts von zeitgenössischen Komponisten gedreht, etwa von Jürg Frey. Derzeit läuft im Kino «Gute Tage», worin er vier Künstler besucht, die nach einer Erkrankung oder einem Unfall Mühe hatten, in ihre Arbeit zurückzufinden. Einer von ihnen ist der inzwischen verstorbene Plastiker Boris Mlosch, der im Film einmal über sich sagt, er liege hauptamtlich herum. Sieht man ihn dann beim Malversuch, bringt ihn die Bewegung des Arms an den Rand der Erschöpfung. Es sind intime Momente über die Riesenanstrengung beim Winzigsten: Künstler, die sich mit allen Kräften zu verwirklichen suchen; nur macht der Körper nicht, was sie wollen.
Den Melodien entlanghören
Fünf, sechs Jahre habe er an «Gute Tage» gearbeitet, erzählt Graf. Das sei lange, das wolle er nicht mehr. Lieber zeichne und male er jetzt selber. Pro Woche lese er drei Bücher, und in Zürich treffe man ihn ohnehin eher im Konzert als im Kino an. Musikhören sei für ihn so anregend, weil es dabei nicht nur darum gehe, den Melodien entlangzuhören, sondern auch, sich an Strukturen zu freuen. Es sei gleich wie bei der Filmmontage, und man merkt: Graf ging es nie um intellektuelle Abstraktionen oder um Theoriegebäude, konstruiert aus Argumentationen. Das sind ihm alles Vereinfachungen. Es geht ihm darum, eine Ahnung von der Gesamtheit zu erhalten, auch wenn man dabei nie sicher sein kann.
Dass sich heute das Kino viel stärker um internationales Prestige und um Erfolg drehe, sei ein Grund, weshalb es dem Kollektiv nicht so schwer falle, zusammenzupacken. Dabei hat Graf den Typ des modernen Künstlerunternehmers miterfunden: den agilen Schaffer, der selber dreht, schneidet, das Plakat gestaltet, aber sich zugleich abstützen kann auf eine Produktionsgemeinschaft. Heute gibt es wieder neue Filmkollektive, in Zürich etwa 8horses. Urs Graf findet das eine gute Sache, aber das Kollektiv macht jetzt Schluss.
«Gute Tage» läuft in Zürich im Arthouse Piccadilly 2.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch