Das etwas andere Kino am See
Bereits vor über 100 Jahren lockte ein Massenmedium die Bevölkerung ans Zürcher Seeufer – und zwar schon damals mit Virtual Reality.
Zürich steckt mitten in der Open-Air-Kinosaison. Sieben Veranstaltungen stehen in diesem Sommer noch auf dem Programm. Am Zürichhorn ist bis zum 20. August sogar jeden Abend ein Film zu sehen. Und allabendlich strömen die Zuschauer von überall her zum Zürcher Seebecken.
Das war schon Ende des 19. Jahrhunderts so, als es noch keine Filme gab: 1894 – ein Jahr bevor die Brüder Auguste und Louis Lumière in Paris die ersten Bewegtbilder zeigten – lockte ein Grossbildpanorama Schaulustige in Scharen ans Utoquai. Wer den Rundbau betrat, stand plötzlich auf dem Schlachtfeld bei Murten.
Um einem herum tobten die Kämpfe. Die Eidgenossen und ihre Verbündeten konnten soeben die Befestigungen der Burgunder durchbrechen und dringen ins feindliche Lager ein. Während auf einer Seite das Gemetzel beginnt, hat ein Teil der Truppen Karls des Kühnen auf der anderen Seite noch nichts vom Angriff der Eidgenossen bemerkt. Vereinzelt stürzen die Überraschten sich in Panik in die Rüstungen oder fliehen in die Wälder. Es ist der Moment der Wende in der Schlacht. Ein grosses Drama mit vielen Details auf über 100 Metern Länge und 10 Metern Höhe.

Mitten im Geschehen
Panoramen waren damals das, was das Kino heute ist: Ein Ort, wo man für kurze Zeit in eine andere Welt eintauchen und dem Alltag entfliehen konnte. Sie gelten als das erste Massenmedium der Geschichte. Die Faszination lag in der Grösse der Bilder, in die man buchstäblich eindringen konnte. Anders als bei üblichen Gemälden umschliessen einen Rundbilder, sodass man sich quasi mitten im Geschehen befand – in einer exotischen Landschaft, im Kampfgetümmel, hoch oben auf einem Berggipfel oder schwebend über einer Stadt.
Einige Grosspanoramen gestalteten den Vordergrund der Gemälde mit realen, plastischen Objekten, sodass das zweidimensionale Bild quasi in den Raum überging. Dieses «Faux terrain» verstärkte die Illusion, Teil des Ganzen zu sein. Panoramen waren also quasi eine Urform von Virtual Reality.
Rundbau als perfekter Rahmen
Damit das Panorama seine volle Wirkung entfalten konnte, brauchte es den richtigen Rahmen. In dem hölzernen Rundbau am Utoquai mit seinen mehr als zehn Meter hohen Aussenwänden und seinem Durchmesser von 35 Metern wurde es zu einer regelrechten Sensation. In der Mitte des Ausstellungsraumes befand sich eine Plattform, von wo aus man das Rundbild betrachten konnte.
In manchen Panoramen jener Zeit gab es Besucherplattformen, die zu den Bildthemen passten – sie wurden beispielsweise als Ballongondel oder als Schiffsdeck gestaltet. In Zürich war das nicht der Fall. Es existieren zwar keine Bilder mehr vom Innenraum, Pläne zeigen aber, dass es sich um eine Standardausführung handelte, wie es sie zu jener Zeit unter anderem auch in Genf gab. Im Dach war ein Glasstreifen eingebaut, über welchen das Tageslicht in den Raum dringen und das Bild beleuchten konnte. Die Zuschauer waren durch einen grossen Stoffschirm – das sogenannte Velum – vom Licht geschützt.
Umstrittene «Bretterbude»
Das Gebäude, das die Panoramagesellschaft Zürich am Utoquai auf der Höhe des Seebads bauen liess, war nicht unumstritten. Schon damals regte sich nämlich Widerstand gegen die Übernutzung des Seeufers. Zu jener Zeit wurden die Quaianlagen mit allerlei Unterhaltungseinrichtungen bestückt: Die Voliere wurde gebaut, es gab ein zoologisches Museum mit ausgestopften Vögeln und Säugetieren im Zürichhorn und diverse schwimmende Badeanstalten vor den Quaimauern.

Der Zürcher Stadtrat begegnete dem Bau der «Bretterhütte» mit grosser Skepsis, wie im Stadtratsprotokoll vom 21. Januar 1893 zu lesen ist. Das Gebäude passe wegen des unschönen Äusseren nicht zu der Lage und Umgebung dieses Platzes. «Solche Schaubuden leisten der Ausbeutung der Einwohnerschaft Vorschub», heisst es weiter. Insbesondere die Zurschaustellung von Schlachtenbildern würde sich ungünstig auf die Jugend auswirken, war der Stadtrat überzeugt. Die Stadt bewilligte den Bau des Panoramas schliesslich doch – mit der Auflage, dass nur das Gemälde der Schlacht von Murten gezeigt werden darf. Das Bild wurde zum Publikumsschlager – vielleicht auch wegen der Vorbehalte der Stadtregierung.
Panoramen statt Google Street View
Aber Panoramen gehörten zu jener Zeit auch in anderen Städten zu den populärsten Attraktionen und wurden immer aufwendiger, grösser und realistischer produziert. Mit den Bildern wollte man die Bevölkerung informieren und über Geschichte aufklären, weshalb Hunderte Rundbilder auf Tournee durch verschiedene europäische Metropolen gingen. So konnte man in Zürich neben der Schlacht von Murten auch andere historische Ereignisse quasi hautnah erleben. Unter anderem war dort auch das Rundgemälde «Der Kampf um Bazeilles» zu sehen, ein wichtiges Gefecht im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71.
Das Interesse an den Panoramen hing auch mit dem einsetzenden Tourismus zusammen: Wer die gezeigten Landschaften wirklich gesehen hatte, konnte nun die eigenen Erinnerungen mit dem Bild vergleichen, und wer eine Reise plante, konnte sich im Voraus ansehen, was ihn erwartete – so wie wir es heute mit einem virtuellen Rundgang auf Google Street View tun.
Das Panorama am Utoquai blieb noch bis 1919 in Betrieb und wurde 1928 abgetragen. Das Schlachtenbild von Murten wurde nur bis ins Jahr 1897 dort ausgestellt. 1996 wurde es auf Initiative der «Stiftung für das Panorama der Schlacht bei Murten» aufwendig restauriert und an der Expo.02 im Monolith von Jean Nouvel auf der Arteplage Murten gezeigt. Seither lagern die drei Rollen des Panoramas in Murten. Die Stiftung sucht nach wie vor nach einem Standort, wo das gewaltige Bild wieder gezeigt werden könnte.
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