Das Geburts-Gezänk
Kaiserschnitte nehmen zu – obschon der Eingriff für viele Frauen als zweitklassig gilt.

Vor zwei Wochen krebste das britische Royal College of Midwives zurück. Die königliche Ausbildungsstätte für Hebammen gab bekannt, Abstand zu nehmen von der seit 12 Jahren vertretenen Doktrin, wonach eine «normale» Geburt erstrebenswert sei.
Mit «normal» war «natürlich» gemeint, also vaginales Gebären ohne jegliche medizinische Hilfe. Diese Wortwahl, erklärte das RCM, habe dazu geführt, dass Frauen, die nicht normal entbinden könnten, sich minderwertig fühlten. Das sei nie die Absicht gewesen.
Die Kaiserschnittrate ausgewählter OECD-Länder

Die Neuformulierung erfolgte nicht ganz freiwillig: Das RCM sah sich dazu veranlasst, weil zwischen 2004 und 2013 in Grossbritannien 16 Kinder und 3 Mütter bei der Geburt gestorben waren – die Hebammen hatten gemäss der Maxime «wait and see» trotz aufgetretenen Komplikationen auf eine natürliche Geburt gepocht.
Die Vorfälle wurden untersucht, und der abschliessende Bericht hielt fest, dass der Tod von elf Babys und einer Mutter hätte verhindert werden können, wenn rechtzeitig ärztliche Hilfe beigezogen worden wäre. Gegen mehrere Hebammen laufen Verfahren.
Es gab Applaus für das Statement des RCM, vor allem aber herrschte Einigkeit darüber, dass die Abkehr vom Wörtchen «normal» längst überfällig gewesen sei: Frauen, die eine Teilanästhesie wünschten oder einen Kaiserschnitt benötigten, indirekt als «abnormal» zu bezeichnen sowie die natürliche Geburt mit geradezu ideologischer Verbissenheit zu vertreten, sei unverantwortlich, schrieb der «Guardian».
Schweizer Hebammenverband reagiert abwehrend
Es wurde deutlich, wie aufgeladen es ist, das Thema Geburt, wie sehr die Begriffe «richtig» und «falsch» dabei eine Rolle spielen. Und die Vehemenz, mit der die Diskussion geführt wird, hat sich in den letzten Jahren nicht abgeschwächt, sondern eher verstärkt.
Der Schweizerische Hebammenverband (SHV) jedenfalls reagiert auf die Anfrage, was man vom Statement der britischen Kolleginnen halte und ob man sich ein solches ebenfalls vorstellen könnte, abwehrend: Geschäftsführerin Andrea Weber will nur Stellung nehmen, wenn sie den Artikel vorgängig zum Lesen erhalte, da er «sehr polarisieren» werde.
«Fühlt ihr euch auch minderwertig, weil ihr einen Kaiserschnitt hattet?»
Tatsächlich ist das Netz voll mit zänkischen Auseinandersetzungen darüber, was eine «richtige» Geburt ausmache; ein Kaiserschnitt gilt offenbar für viele als zweitklassige Form der Niederkunft. Auf Foren finden sich unzählige Beiträge mit Titeln wie «Zeigt mehr Respekt gegenüber Frauen mit Kaiserschnitt!» oder «Fühlt ihr euch auch minderwertig, weil ihr einen Kaiserschnitt hattet?».
Da beschreiben dann Frauen, die unerwartet eine Sectio benötigten, wie sie sich um das Geburtserlebnis betrogen und deshalb nicht als richtige Mutter, sondern als Versagerin fühlten. Wie sie damit haderten. Wie sie enttäuscht seien. Den Betroffenen schwappt eine grosse Welle an Solidaritätsbekundungen entgegen.
«Too posh to push» – zu fein, um zu pressen?
Weniger gut ergeht es denen, die sich bewusst für eine geplante Sectio entscheiden. Sie seien «too posh to push», sich zu fein, um zu pressen, heisst es. Man unterstellt ihnen, sie würden die Niederkunft planen wie einen Termin im Nagelstudio, purer Egoismus sei das und eine Missachtung der Natur. Da schwingt der Uraltgedanke mit, gemäss dem sich der Wert einer Frau nach ihrer Leidensfähigkeit bemisst.
Wie prägend diese Vorstellung war, zeigt die Historikerin Eva Labouvie in ihrer Publikation über die ländliche Gebärkultur auf: das Aushalten des Schmerzes habe als «ultimative Bewährungsprobe für den Charakter einer Frau» gegolten. Das sah auch Papst Pius XII. so, der noch Mitte des letzten Jahrhunderts erklärte, eine Mutter liebe ihr Kind umso mehr, je mehr Schmerz es sie gekostet habe.
«Das Aushalten des Schmerzes galt als ‹ultimative Bewährungsprobe für den Charakter einer Frau›.»
Während der Feminismus so populär und allgegenwärtig ist wie schon lange nicht mehr, die Frauenfrage mittlerweile auch in der Schweiz verlässlich gestellt wird, wenn es um die Nachfolge im Bundesrat geht, scheinen sich die Frauen beim Thema Geburt freiwillig einem eigenartig anmutenden Wettbewerb auszusetzen. Würde man die erbitterte Debatte nicht im Netz verfolgen, man wähnte sich in einer längst vergangenen Zeit, in der Frauen nichts anderes zu bieten hatten als ihre Fortpflanzungsfähigkeit und sie ausschliesslich über diese definiert wurden.
Dieselbe Diskussion wie bei der Pille
Pasqualina Perrig-Chiello, emeritierte Psychologieprofessorin der Uni Bern, «beelendet» das zwar, aber es wundert sie nicht. «Dieselbe Diskussion gab es schon bei der Pille, dann beim Stillen. Jede zusätzliche Option hat zur Folge, dass man für die getroffene Wahl Verantwortung übernehmen muss. Und je mehr Freiheiten da sind, desto mehr setzt das unter Druck, das absolut Richtige zu tun.» Es gehe, so Perrig, um eine «Wertediskussion», darum, dass man Frauen immer noch nicht zugestehe, eine eigene, selbstbestimmte Wahl zu treffen.
«Je mehr Freiheiten da sind, desto mehr setzt das unter Druck, das absolut Richtige zu tun.»
Vordergründig werden deshalb meist medizinische Aspekte ins Feld geführt: Natürlich gebären sei besser, weil besser für das Kind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält in ihrem aktuellen Bericht von 2015 zur Sectiorate zwar fest, dass, sofern alles komplikationsfrei verlaufe, eine natürliche Geburt vorzuziehen sei, weil es sich beim Kaiserschnitt um eine Operation mit all den dazugehörigen Risiken handle.
Aber da steht eben auch, die Datenlage, welche Folgen ein Kaiserschnitt für das Kind habe, sei zu wenig eindeutig, als dass sich seriöse Schlussfolgerungen daraus ziehen liessen. Es seien weitere Studien dazu nötig. Unbestritten ist nur: Eine Kaiserschnittrate von 10 bis 15 Prozent senkt das Sterblichkeitsrisiko von Müttern und Kindern deutlich. Eine Quote, die darüberliegt, hat keinen nennenswerten Einfluss mehr darauf.
Fast jede dritte Geburt per Kaiserschnitt
Mittlerweile beträgt der Anteil der Sectios in den OECD-Staaten im Schnitt 27 Prozent; die Schweiz liegt mit 32 Prozent leicht darüber. Ein Blick auf die Statistik zeigt allerdings Verblüffendes: Der Kaiserschnitt ist ausgerechnet in konservativen Ländern besonders populär.
OECD-weite Spitzenreiterin ist die Türkei, gefolgt von katholisch geprägten Nationen wie Mexiko, Italien und Polen, während moderne, sich vor allem durch Gleichberechtigung auszeichnende Staaten die Schlusslichter bilden: Norwegen, Schweden, Finnland, Island.
Der Kaiserschnitt ist ausgerechnet in konservativen Ländern besonders populär.
Über diese Verteilung rätseln selbst die Fachleute. Aus medizinischer Sicht sind das immer höhere Alter und das immer häufigere Übergewicht der werdenden Mütter sowie die zunehmenden Mehrlingsschwangerschaften nachvollziehbare Gründe für die stetig wachsende Sectio-Rate.
Hinzu kommt, dass es auch um Effizienz geht: Für die Spitäler sind Kaiserschnitte praktischer, weil planbar. Das alles erklärt aber die grossen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern nicht; die Studienmacher halten etwas ratlos fest, dass dafür wohl gesellschaftliche Gründe ausschlaggebend sein müssten.
Unzulässig, Kindes- gegen Mutterwohl auszuspielen
Pasqualina Perrig-Chiello vermutet einen Zusammenhang zwischen der Höhe der Kaiserschnittrate und dem Stellenwert von Kindern: «In konservativen Ländern spielt der Kindersegen eine grosse Rolle. Mit einem Kaiserschnitt stellt man sicher, dass nichts dem Zufall überlassen wird: Das Kind soll nicht durch die Unberechenbarkeit einer Geburt Schaden nehmen können. Es soll perfekt sein.»
In weniger konservativen Ländern soll das Kind zwar ebenfalls perfekt sein, bloss spielt hier das Geburtserlebnis der Mutter eine genauso grosse Rolle. Der Wunsch, sich «als Frau zu fühlen» ist da womöglich gerade wegen der Emanzipation ausgeprägter, wie überhaupt gerade in vielen modernen Gesellschaften eine Zurück-zur-Natur-Bewegung auszumachen ist. Manchmal ist die Sehnsucht nach einer vaginalen Geburt so gross, dass Schwangere diese um jeden Preis durchsetzen wollen und es einer pragmatischen Hebamme bedarf, die ihnen klar macht, dass das nicht möglich und auch nicht schlimm ist.
Manchmal ist die Sehnsucht nach einer vaginalen Geburt so gross, dass Schwangere diese um jeden Preis durchsetzen wollen.
Pasqualina Perrig-Chiello ärgert es, dass das Kindes- gegen das Mutterwohl ausgespielt wird. Weil ignoriert werde, dass beides untrennbar zusammenhänge, das eine ohne das andere nicht möglich sei: «Wenn eine Frau eine Geburt als bedrohlich empfindet, sie aber dazu überredet wird, kann das traumatische Folgen haben, die zu einer Depression führen können. Damit ist doch dem Kind in keiner Weise gedient.» Die Selbstbestimmung war und ist eines der zentralen Anliegen des Feminismus. Sie gilt auch und gerade bei der Geburt.
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