«Das Gedicht reiht sich in die Tradition der vorösterlichen Polemik gegen Juden ein»
Judaistik-Professor René Bloch kritisiert das Grass-Gedicht – es verdrehe die historischen Fakten, und auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung irritiere. Fundierte Israel-Kritik sei hingegen zu begrüssen.
Herr Bloch, Sie halten sich derzeit in Israel auf. Wie wird die Grass-Kontroverse dort diskutiert? Mein Eindruck ist, dass die Angelegenheit hier eine politische ist. Im privaten Kreis hingegen wird wenig über Grass diskutiert, die Bevölkerung nimmt die Debatte kaum zur Kenntnis. Wer das Gedicht jedoch liest, der muss sich angegriffen fühlen, darüber besteht kein Zweifel – der Text ist einfach zu stark. Man ist betroffen über Grass' obszöne Verdrehung der Geschichte, der historischen Fakten. Plötzlich sind mit den «Überlebenden» nicht mehr die Juden gemeint, sondern Sie, ich, wir, die Deutschen. Plötzlich ist mit «Auslöschung» nicht mehr die tatsächliche versuchte Auslöschung des jüdischen Volks gemeint, sondern die mögliche Auslöschung des iranischen. Bemerkenswert ist auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung: Grass' Gedicht reiht sich, ob nun willentlich oder zufällig, in die im Mittelalter wurzelnde Tradition der vorösterlichen Polemik gegen Juden ein. An den Osterspielen waren die Juden regelmässig Spott-Sujets.