Das Gegengift zur AfD
Keine Partei ist zuletzt so stark gewachsen wie die Grünen. Lösen sie bald die SPD als neue linke Volkspartei ab?

Wer wissen will, warum die Grünen derzeit die deutsche Politik aufmischen, muss sich nur ihr neues Führungsduo ansehen: Robert Habeck und Annalena Baerbock wirken frischer und aufregender als die Spitzen der anderen Parteien zusammen.
Der 49-jährige Habeck, lässiger Typ, Dreitagebart, ist bereits ein Star, der als geistreicher Politikerzähler jeden Saal füllt. Viele Menschen hören dem Schriftsteller gerne zu, weil er den Jargon vermeidet, mit dem die meisten Politiker ihr Publikum quälen. Die 37-jährige Baerbock, charmant und frech, pflegt ihren eigenen Stil. Die Politikwissenschaftlerin und ehemalige Trampolinturnerin überlässt das Philosophieren ihrem Partner und streitet lieber über konkrete Politik, sei es Umwelt, Bildung oder sozialer Wohnungsbau.
Mit Habeck und Baerbock führen seit Januar erstmals zwei Pragmatiker die Partei, die sich jenseits des überlebten Flügelproporzes ideal ergänzen. Ohne Not schoben die Grünen damals Schwergewichte wie Cem Özdemir zur Seite und bewiesen ganz nebenbei, wie wirkungsvoll eine Partei sich erneuern kann, indem sie frisches Personal präsentiert.
Neue Themen, neuer Ton
Statt mit den üblichen Umweltthemen brachen Baerbock und Habeck im Sommer zu einer neopatriotischen Heimattour auf, die sie an nationale Symbole wie das Hambacher Schloss oder in den Teutoburger Wald führte. Habeck begründete, warum sich die Grünen heute mehr um Rechtsstaat und innere Sicherheit kümmern müssten als früher. Jetzt, da allenthalben die Würde des Menschen angetastet werde, erklärte Baerbock, gelte es, mit aller Kraft das Erbe der deutschen Gründungsväter zu verteidigen. Vor nicht allzu langer Zeit galt «Heimat» unter linken Grünen noch als Schimpfwort.
Habeck und Baerbock verkörpern nicht nur neue Themen, sondern auch einen neuen Stil. Politik macht ihnen sichtlich Spass, trotz ernster Themen. Sie wollen die Grünen vom Ruf der moralinsauren Volkserziehung befreien und auf eine fortschrittliche, aber moderne Politik hin öffnen. Ziel sei es, aus dem eigenen Milieu auszubrechen und als Kraft der ökologischen Mitte neue, breitere Bündnisse für echten Wandel zu ermöglichen.
Der Erfolg gibt den Grünen bisher recht. Keine Partei, auch nicht die AfD, ist seit der Bundestagswahl vor einem Jahr in den Umfragen so stark gewachsen wie sie: von 9 auf bis zu 19 Prozent. Damit hat sie teilweise die SPD als zweitstärkste Partei überholt und erreicht Werte, die sie erst einmal in ihrer Geschichte übertroffen hat: nach der AKW-Katastrophe von Fukushima 2011.
Der Höhenflug hat laut Meinungsforschern vor allem zwei Gründe: Zum einen avancierten die Grünen zur Projektionsfläche jener Mittewähler, die von der Grossen Koalition enttäuscht sind. Laut einer Studie sind 42 Prozent der «Neu-Grünen» ehemalige SPD-Wähler, 25 Prozent wechselten von der CDU. Während der FDP stets das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen vorgehalten wird, profitieren die Grünen ungehindert vom Unmut über das «Weiter so!» von Union und SPD.
Zum anderen ist der Erfolg eine Reaktion auf den von vielen Bürgern als bedrohlich empfundenen Aufstieg der AfD. Konsequenter als die anderen Parteien haben die Grünen sich als humane, liberale und europäische Alternative zu deren autoritärem Nationalismus positioniert und werden nun von vielen Wählern auch als wirkungsvollstes «Gegengift» wahrgenommen.
Modern – und konservativ
Im Unterschied etwa zur SPD verfügen sie über ein klares und zeitgenössisches Profil: Sie wollen die Umwelt und die freie Gesellschaft bewahren. Das sind wiederum die Kernpunkte dessen, was der grüne baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann als «modernen Konservatismus» bezeichnet.
Die neuen Grünen, wie sie Kretschmann oder Habeck vordenken, sind denn auch nicht wirklich eine «neue Sozialdemokratie», sondern vielmehr eine «neue Bürgerlichkeit». Eine neue Volkspartei indes werden sie kaum werden. Ihre Kernwählerschaft konzentriert sich immer noch stark auf gut gebildete, gut verdienende Städter, zudem sind sie im Osten kaum vertreten. Das Ziel, künftig anstelle der SPD die linke Mitte anzuführen, ist aber keineswegs unrealistisch.
Habeck und Baerbock sind erst daran, ein neues Grundsatzprogramm zu entwickeln, viele ihrer Konzepte sind noch ziemlich unscharf. Eindeutig aber stehen sie für das Bemühen, dem Klein-Klein von Angela Merkels Politikstil den Mut zu grossen Entwürfen und einem richtigen Aufbruch entgegenzustellen. «Radikal ist das neue realistisch», lautet Habecks geflügeltes Wort dafür.
In Bayern waren die Grünen am Sonntag zwar die grossen Gewinner der Landtagswahl, aber regieren will die CSU nun doch lieber mit einer anderen Partei. 2013 waren die Grünen nicht bereit, mit Merkels Union zu koalieren. Im letzten Jahr waren sie es, dafür die FDP nicht. Schlägt Habecks und Baerbocks Stunde, wenn irgendwann die Grosse Koalition zerbricht und das System Merkel untergeht?
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