Das grosse Inflationsrätsel
Die Notenbanken schwemmen die Wirtschaft mit Geld, dennoch bleibt die Inflation zu tief. Eine Erklärung.

Gemäss der herkömmlichen Lehrbuch-Einsicht der Volkswirtschaftslehre müsste weltweit die Inflation explodieren. Das heisst, das Preisniveau insgesamt müsste deutlich steigen. Denn die Notenbanken pumpen weltweit noch immer massiv frisches Geld in die Wirtschaft, was sich an der Vervielfachung ihrer Bilanzen über die letzten Jahre zeigt. Die Logik hinter dem Zusammenhang von Geldschöpfung und Inflation ist einfach. Wenn mehr Geld gedruckt wird, ohne dass die Gütermenge entsprechend zunimmt, dann müsste das Geld entsprechend seiner Zunahme an Wert einbüssen. Geldentwertung ist ein anderes Wort für Inflation.
Doch das passiert nicht. Die Inflation bewegt sich in den westlichen Volkswirtschaften nicht vom Fleck. Dabei steht vor allem die sogenannte Kerninflation im Fokus, die Energie- und Nahrungsmittelpreise nicht berücksichtigt. Diese Preise verzerren bloss das Bild auf den zugrunde liegenden Trend, weil sie kurzfristig um die Kerninflation nach oben und nach unten schwanken. Kurz: Die Inflation verharrt auf tieferen Werten, als sie die Notenbanken mit ihrer Geldschwemme anstreben. Praktisch überall ist das eine Inflationsrate von rund 2 Prozent. Allein dies stellt für die Ökonomen ein Rätsel dar.
Der herkömmliche Wirkungszusammenhang
Die bisher wichtigste Erklärung war, dass die Wirtschaft eben fast überall noch zu wenig ausgelastet ist. Wenn die gesamte Nachfrage in einer Volkswirtschaft nicht ausreicht, um die Produktionskapazitäten der Unternehmen voll zu beanspruchen, dann halten sich diese bei den Preisen zurück oder senken sie sogar, um nicht noch die bestehenden Nachfrager abzuschrecken, so lautet vereinfacht der Zusammenhang. Doch die Wirtschaft zum Beispiel in Europa und in den USA, aber auch in der Schweiz zeigt keine Anzeichen einer Rezession und legt solid zu. Dennoch: Von einer Inflation im Bereich von 2 Prozent ist nach wie vor weit und breit nichts zu sehen. Und die Notenbanker selbst prognostizieren selbst weit in die Zukunft zu tiefe Raten. In der Schweiz rechnet die Nationalbank selbst in zwei Jahren noch mit einer Rate von nur gerade 1 Prozent.
Eine der zentralen Erklärungen für das Verharren der Inflation auf ungewöhnlich tiefen Werten dreht sich um die Entwicklung der Löhne. Denn der Wirkungsmechanismus der Geldpolitik auf die Inflation geht zu einem wichtigen Teil so: Mehr Geld in der Wirtschaft sorgt für tiefere Zinsen, diese wiederum führen zu vermehrten Investitionen und mehr Konsum, das sorgt für eine grössere Gesamtnachfrage, die Beschäftigung steigt, und die grössere Nachfrage nach Arbeitskräften gibt diesen die Möglichkeit, höhere Löhne durchzusetzen. Die höheren Löhne führen zu höheren Kosten für die Unternehmen, weshalb sie die Preise ebenfalls erhöhen.
Stagnierende Löhne
Doch dieser Wirkungszusammenhang scheint zusammengebrochen zu sein. An seiner letzten Pressekonferenz ist Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, darauf ausführlich eingegangen. Ein Grund dafür sei, dass die Löhne oft in Abhängigkeit der vergangenen Inflationsraten ausgehandelt werden und nicht von der Wirtschaftsentwicklung abhängen. Da die Inflation in den letzten Jahren sehr tief und sogar negativ war, fallen auch die Lohnanpassungen trotz anziehender Nachfrage zu tief aus. Dazu kommt, dass die anziehende Nachfrage nach Beschäftigten nicht reguläre und gut bezahlte Jobs betrifft, sondern schlecht bezahlte Temporär- und Teilzeitjobs. Immerhin ist Draghi überzeugt, dass mit einem fortgesetzten Aufschwung auch Angestellte in besseren Jobs profitieren werden und die Löhne in der Breite zu steigen beginnen – und sich damit auch die Inflation zur Zielgrösse hin zurückbewegt. Doch weil das bisher noch nicht geschehen ist, hält er eine fortgesetzte äusserst expansive Geldpolitik trotz besserer Wirtschaftsdaten für notwendig.
Ähnlich sieht es in den USA aus. Dort hat sich die Inflation trotz der fortgesetzten Wirtschaftserholung wieder zurückgebildet. Viele Marktbeobachter rechnen deshalb damit, dass die US-Notenbank Fed bei weiteren Zinserhöhungen zurückhaltender bleiben wird. Einige halten schon die bisherigen für nicht gerechtfertigt. Einer davon ist Larry Summers, Finanzminister unter dem demokratischen Präsidenten Bill Clinton und Wirtschaftsberater unter Barack Obama, dem Vorgänger von Donald Trump. Summers empfiehlt der Notenbank, zuzuwarten, bis sich ernsthafte Zeichen einer steigenden Inflation zeigen, und davon sei bisher weit und breit nichts zu sehen.
Unterauslastung bleibt bestehen
Die direktere Erklärung für die ausbleibende Inflation ist der bereits erwähnte Umstand, dass trotz wieder höherer Wachstumsraten die Kapazitäten fast überall noch unterausgelastet sind. Auf dieses Erklärungsmuster stützt sich etwa die Schweizerische Nationalbank unter anderem ab. Der teure Franken hat die Schweiz zwar nicht in eine Rezession gedrückt, aber doch gehörigen Druck auf die Unternehmen ausgeübt, sodass deren Preissetzungsmacht eingeschränkt bleibt.
Dass Notenbanken überhaupt eine höhere Inflation anstreben, liegt einerseits daran, dass in dieser Situation die Realzinsen (eben die um die Inflation korrigierten Zinssätze) höher liegen. Wenn die Inflation sogar negativ wird (das Preisniveau sinkt), dann steigen die Realzinsen sogar. In dieser Situation können Notenbanken gezwungen sein, negative Zinsen einzuführen, um die Realzinsen wieder zum Sinken zu bringen. Negativzinsen sind aber äusserst unbeliebt, und sie führen zu negativen Nebenwirkungen, die noch immer nicht ganz verstanden werden. Eine weitere Erklärung für den Vorteil einer Inflation von deutlich über null Prozent ist der Umstand, dass die gemessenen Werte meist zu hoch ausfallen. Aber auch, weil bei einer höheren Inflationsrate Marktpreise und Löhne flexibler angepasst werden können als bei einer Inflationsrate von null Prozent oder tiefer.
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