«Das ist für mich das Stadttheater der Zukunft»
Der Schweizer Regisseur Milo Rau sagte dem Schauspielhaus Zürich ab, um das Nationaltheater Gent zu leiten. Was er mit seiner Intendanz plant.

In Zürich sucht man einen neuen Intendanten. Sie waren beim Bewerbungsverfahren in der Endrunde. Nun haben Sie sich vorzeitig zurückgezogen. Warum?
Es war für mich und mein Team eine sehr schwere Entscheidung, in Zürich abzusagen. Wir sind im Laufe des langen und detaillierten Bewerbungsverfahrens mit sehr vielen Leuten ins Gespräch gekommen, zu inhaltlichen und technischen Details, aber auch übers Theater ganz allgemein. Die Möglichkeiten des Schauspielhauses sind gewaltig, und Zürich ist ein unglaublich interessanter, lebendiger Kulturstandort! Doch das Angebot, als Nachfolger von Johan Simons das Nationaltheater Gent zu leiten, konnte ich einfach nicht ausschlagen.
Gent gilt als eines der wichtigsten Theaterhäuser, weil von hier aus in den 90er-Jahren die flämische Welle ausging.
Ja, mit Protagonisten wie dem Choreografen Alain Platel oder dem Regisseur Luk Perceval, die dem europäischen Theater entscheidende Impulse gegeben haben und die bei uns weiterhin arbeiten werden. Aber vor allem entspricht das NT Gent meiner Arbeitsweise ideal: Es ist das grösste Ensemble-Theater im flämischen Raum, es versorgt eine Bevölkerung von der Grösse der Schweiz mit Theater. Darüber hinaus sind Produktionen des NT Gent in ganz Europa präsent. Das bedeutet, dass man extrem viel tourt, bis zu 300 Stationen pro Jahr, was doch wunderbar ist: mit einem festen Ensemble ein anspruchsvolles Repertoire zu schaffen, wie das an Stadttheatern üblich ist – und dann international damit zu touren, wie das im deutschen Sprachraum nur in der freien Szene möglich ist. Das ist, kurz gesagt, für mich das Stadttheater der Zukunft.
Aber ist es nicht die Stärke des herkömmlichen Stadttheaters, dass es genügend Mittel gibt? Anders als in der freien Szene, wo man auf Koproduzenten angewiesen ist?
Ich habe Koproduktionen immer nur als Bereicherung erlebt – im künstlerischen wie produktionstechnischen Sinn. Vor allem aber, und darum geht es mir, schliessen Tourneen das Stadttheater-Modell nicht aus. Als Künstler steht für mich die Produktion, also die Erarbeitung von Inszenierungen im Zentrum, deshalb bin ich auch ein so begeisterter Fan des Stadttheater-Modells: Man kann ein Ensemble zusammenstellen, das sich gegenseitig bereichert, das als Kollektiv für eine Ästhetik steht. Mit Werkstätten verfügt man zudem über einen Apparat, der aufwendige Produktionen und Ideen erlaubt, die in der freien Szene kaum zu realisieren wären. Daher finde ich das NT Gent so interessant: weil es ein Stadttheater im klassischen Stil ist, mit einem Haupthaus aus dem 19. Jahrhundert in der Dimensionierung des Pfauen und mit mehreren Nebenbühnen, ähnlich wie im Schiffbau.
Warum aber braucht es Tourneen?
In einer mittelgrossen Stadt ist das Kontingent an Zuschauern recht schnell ausgeschöpft – egal, ob für einen Klassiker oder ein experimentelles Stück. In Zürich etwa verschwindet sogar ein Dürrenmatt nach 12 bis 18 Vorstellungen vom Spielplan. So entsteht ein extremes Ungleichgewicht zwischen Produktionskosten und Ausbeute. Das ist auch künstlerisch sehr bedauerlich: Die Schauspieler wollen spielen, die Techniker wollen touren. Sie sind stolz auf ihre Produktionen. Und deshalb gehen wir am NT Gent nach einer ersten Aufführungsserie auf internationale Tour.
Ihre Produktionen werden über Jahre und oft weit über hundertmal auf der ganzen Welt gespielt. Das bedingt, dass man mit kleineren Bühnenbildern arbeitet, die sich gut transportieren lassen.
Es muss ja nicht alles auf Reisen gehen. Für Gent planen wir auch Produktionen, die sehr gross sind und mit denen es schwieriger ist zu touren. Aber ich finde es toll, wenn man an Stadttheatern bewusst auch leichtere Produktionen herausbringt, die reisen können. Wenn ich meine eigenen Inszenierungen begleite, was ich oft mache, dann sehe ich, wie sie sich auf Gastspielen anreichern und wie das scheinbar Lokale universal wird. Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass Arbeiten wie «Hate Radio», «Mitleid» oder «Five Easy Pieces» in Russland, Japan oder Lateinamerika ein Publikum interessieren könnten.
«Wir müssen vom provinziellen Denken wegkommen, wir brauchen ein globales Volkstheater.»
Aber was hat das hiesige Publikum davon, wenn eine Produktion aus Zürich oder Gent auch in Japan funktioniert?
Das Ensemble wächst auf der Tour anders zusammen, die Fähigkeiten der Techniker werden ausgereizt, es entstehen neue Einflüsse und Ideen. Wenn man dann wieder zurückkommt, spielt man eine neue Serie. So hat auch das lokale Publikum mehr davon, als wenn – wie momentan leider üblich – die Produktion einfach verschrottet wird. Zudem ermöglicht das Koproduktionsmodell einen Austausch mit anderen Theatern: Wir schicken eine Produktion auf Reisen, erhalten dafür eine andere, die bei uns zu Gast ist. In Gent werde ich so mit grossen Häusern in Deutschland und Frankreich koproduzieren. Aber jenseits der besseren Auslastung und des Gewinns geht es letztlich um etwas Grundsätzlicheres: um ein wahres, global gedachtes Volkstheater!
Ein globales Volkstheater?
Ja, wir müssen von diesem feudalen, provinziellen Denken wegkommen, mit dem zu extrem überteuerten Preisen für ein urbanes, reiches Spartenpublikum produziert wird. Und das dazu führt, dass der künstlerische Mut – auch des Publikums – immer kleiner wird. In Zürich etwa spielt man immer wieder Dürrenmatt oder Frisch, weil das in der begrenzten Lokallogik noch am besten läuft, anstatt sich die Frage zu stellen, was die wahren Tragödien unserer Zeit sind. Was sind die Konflikte und Antagonismen, die uns alle interessieren? Wie kann man zu einem anspruchsvollen Theater für die ganze Gesellschaft kommen, wie es die Griechen oder Brecht und seine Mitarbeiter praktiziert haben?
Lässt sich in einer Welt der Meinungsgemeinden eine universalistische Perspektive überhaupt noch behaupten?
Meiner Erfahrung nach: absolut! In Belgien werde ich meine Intendanz mit einem Projekt eröffnen, für das wir den berühmten Genter Altar aus dem 15. Jahrhundert mit Schauspielern, aber auch Protagonisten aus der ganzen Stadt auf die Bühne bringen. Das ist ein Massenprojekt, für das wir gut fünfzig Leute aus Gent casten und das wir auch verfilmen werden. Wir unternehmen von Anfang an den Versuch, durch Leuchtturmprojekte in die gesellschaftliche Breite zu gehen und mit allen denkbaren Zuschauerkreisen in Kontakt zu kommen.
Kann man das Stadttheater retten, indem man nur in die Breite geht?
Nein, ich träume seit langem auch von einem zeitgenössischen Klassikertheater, das diesen Namen verdient. Dabei ginge es darum, tief in die grossen Tragödien hinabzusteigen, ihre Fremdheit auszuhalten und nicht einfach hektisch ein paar Regietricks über die Texte zu legen. Dazu kommen Kongresse, Gegenwartsdramatik und der Mut, auch bildende Künstler und Filmregisseure einzuladen. Eventkultur wird ja kritisiert, aber Eventlogik muss man nutzbar machen. Denn dafür ist das Stadttheater ja ursprünglich erfunden worden: Damit wir, mitten in der Gegenwart stehend, in eine Debatte mit unserer Vergangenheit treten – und so unsere Zukunft schaffen.
Aber wie wird aus der Betrachtung der Genter Gesellschaft globale Kunst, die in Zürich ebenso interessiert wie in Ouagadougou?
Indem man das Lokale als global versteht und als etwas zeigt, was die ganze Welt angeht. Oder wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu so schön sagte: Wenn man lange genug auf etwas Kleines, scheinbar Spezifisches blickt, wird sich die ganze Welt darin spiegeln. Gent als Arbeitsort ist für mich auch deshalb so interessant, weil Belgien gleichsam ein Zukunftsbild des multikulturellen Europas ist: eine im 19. Jahrhundert erfundene Nation, kurze Zeit eine Kolonialmacht, in deren grossen Städte die autochthone Bevölkerung längst keine Mehrheit mehr ist. Belgien war in seiner Geschichte Teil Spaniens, der Niederlande, Frankreichs, Deutschlands; seit 50 Jahren ist es Einwanderungsland. Das ist für mich einer der Vorteile eines seinem Wesen nach stationären Modells wie des Stadttheaters: dass man den Blick von ganz nah auf die dramatischen Prozesse richten kann, die bei der Globalisierung des Lokalen ablaufen.
Was hätte das für Zürich bedeutet? Wie hätten Sie den Schiffbau zum Pfauen positioniert? Gemeinsames Programm oder zwei Bühnen mit unterschiedlicher Ausrichtung?
Ich denke, dass die beiden Orte zusammengehören und zugleich viel akzentuierter und programmatischer voneinander getrennt werden müssen als zurzeit. Ich hätte durch thematische Linien die Binnenbewegungen zwischen den Häusern verstärkt, aber eben auch bewusst unterschiedlich programmiert: im Pfauen grosse Klassikerbearbeitungen, im Schiffbau ein eher experimentelles, politisches Programm. Zentral für uns war natürlich: Das Schauspielhaus muss wieder zum Herz der Debatten werden. Dazu hatten wir alle möglichen Ideen, zentral wären selbstverständlich auch Schweizer Themen gewesen.
Welche?
Da gibt es viele. Grossprojekte wie meine «Zürcher Prozesse» gegen die «Weltwoche» hätten eine Rolle gespielt. Zur Eröffnung hätte ich wohl so etwas wie den Genter Altar gemacht, jedoch mit «Wilhelm Tell». Das ist ein alter Traum von mir: einen kompletten «Volks-Tell» zu casten.
Ernsthaft?
Ja, ich bin davon überzeugt, dass es im «Tell» einige Mythen gibt, die nach wie vor künstlerisch produktiv sind. Etwa den Kollektivgedanken: Die sozialen Fliehkräfte sind in der Schweiz viel geringer als in anderen Ländern. Das hat etwas Beengendes, zugleich empfinde ich das Kollektivdenken der Schweiz als etwas Solidarisches, Egalitäres. Wie auch dieser basisdemokratische Instinkt: dass niemand uns sagen soll, wo es langgeht. Zwar ist die Schweizer Egalité in finanzieller Hinsicht eine absurde Lüge, aber für meinen «Volks-Tell» hätte ich diesen Kollektivgedanken versuchsweise ins Utopische gewendet. So wäre ein Tableau der Schweizer Volksseele entstanden – mit ihrer finsteren und kleinlichen, aber auch ihrer edlen und strahlenden Seiten. Und die grosse Frage wäre: Wer spielt den Gessler?
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